Heute entscheidet Großbritannien über den Brexit. Es steht 50:50

21.06.2016

 

brexit remain

"Vote Remain" bei unseren Nachbarn im Fenster. In London ist die Mehrheit fürs Bleiben

Noch vor einer Woche lagen die Europa-Gegner in den Meinungsumfragen leicht vorne. Dann ermordete der Rechtsradikale Thomas Mair die Labour-Abgeordnete und Brexit-Gegnerin Jo Cox. Für einige Tage kam der hitzige öffentliche Streit zum Halt. Als die Auseinandersetzung vor wenigen Tagen wieder Fahrt aufnahm, hatten die Europa-Freunde aufgeholt und liegen nun mit den Brexit-Befürwortern gleichauf.

 

Premierminister David Cameron von den konservativen Tories wiederholt seit Wochen, ein Brexit bedeute „eine Katastrophe für die Wirtschaft“. Jeremy Corbyn, der Vorsitzende der Labour-Partei, wirbt ebenfalls fürs Bleiben, aber sein Hauptargument ist ein anderes: "Nur so können wir erreichen, dass die EU sozialer wird." Auf der anderen Seite kämpft der Tory-Abgeordnete Boris Johnson für den Brexit. Der ehemalige Bürgermeister von London will Nachfolger von Cameron werden und fordert: "Großbritannien muss unbedingt wieder selbst über seine Geschicke bestimmen." Nigel Farage, Chef der rechtspopulistischen Ukip-Partei, warnt vor "Millionen von Einwanderern" und behauptet: „Wir können unsere Grenzen nur dann sichern, wenn wir die EU verlassen."

 

Heute findet in Großbritannien das Referendum über den Verbleib in der EU statt. Je nach Umfrage liegen mal die Befürworter, mal die Gegner eines Brexits vorn. Etliche Briten sind bis zuletzt unsicher wie sie abstimmen werden. Zu verwirrend und zu unglaubwürdig klingen in ihren Ohren die Aussagen der Politiker. Beide Seiten verbreiteten falsche oder schwer belegbare Zahlen und Horrorszenarien. Das rügte sogar der Finanzausschuss des Parlaments.

 

Vor einigen Wochen landete in jedem britischen Haushalt eine Broschüre der Wahlkommission. Darin durften die Pro- und die Contra- Kampagnen noch einmal ihre wichtigsten Argumente aufführen. "Vote Remain" (Wähle Bleiben) schreibt, innerhalb der EU sei Großbritannien "stärker und wohlhabender" und habe so auch mehr Geld für das staatliche Gesundheitssystem NHS zur Verfügung. "Vote Leave" (Wähle Rausgehen) behauptet genau das Gegenteil: Das Land werde durch die hohen Zahlungen an die EU geschwächt und habe deshalb nicht mehr genug Geld für den NHS.

 

Verwirrung und Skepsis sind groß: nicht nur bei weniger gebildeten Leuten, sondern auch bei Akademikern. Fest steht, dass jüngere Leute eher fürs Bleiben votieren werden. Nach einer Umfrage des Instituts YouGov sind 70 Prozent der 18- bis 39-Jährigen für den Verbleib in der EU. Wer gern ins Ausland reist, dort vielleicht sogar studiert hat, ist gegenüber der EU positiv eingestellt und hat weniger Vorbehalte gegenüber Einwanderung. Die Meinungsforscher prognostizieren aber auch, dass ein Teil der jüngeren EU-Freunde aus Bequemlichkeit oder weil sie gerade unterwegs sind, nicht zur Wahl gehen wird.

Die Brexit-Befürworter sind dagegen sehr engagiert und motiviert zu wählen. Für viele "Brexeteers" geht es gar nicht in erster Linie um Europa, sondern gegen "die Mächtigen" in London und Brüssel. Sie fühlen sich überfordert vom rapiden Wandel, fürchten sich vor Einwanderung und Globalisierung und wünschen sich die "gute alte Zeit" zurück. Diese meist älteren und auf dem Lande lebenden Briten schimpfen, dass aus Brüssel nichts Gutes komme und Britannien sich von niemanden etwas vorschreiben lassen dürfe, schon gar keine Gesetze. Vermutlich sprach der Populist Boris Johnson vielen Brexeteers mit seinem dummen Vergleich aus dem Herzen, in der Geschichte seien Versuche, Europa unter ein Dach zu bringen, gescheitert: "Napoleon, Hitler und verschiedene andere Leute haben das versucht, und es endete tragisch."

Besonders verbreitet ist die Anti-EU-Haltung bei den Anhängern der rechtspopulistischen Ukip-Partei. Von den Tory-Anhängern votieren nach einer Umfrage des Instituts ORB 60 Prozent für den Brexit, bei Anhängern von Labour und Liberaldemokraten sind es nur etwa 25 Prozent, bei den Wählern der in Schottland regierenden Schottischen National Partei SNP sogar noch weniger.

Während die Tories gespalten sind und etliche Kabinettsmitglieder für "Vote Leave" kämpfen, zieht die Labour-Partei weitgehend an einem Strang. Das ist umso erstaunlicher, als Parteichef Jeremy Corbyn als EU-Skeptiker bekannt ist. Er kritisiert die EU-Verträge als zu wirtschaftsliberal, aber er betont auch, dass es Verbesserungen bei den Arbeitnehmerrechten und dem Umweltschutz gegeben habe. Sein Credo lautet heute: "Nur innerhalb der EU können wir mehr Reformen erreichen." Doch Corbyn fordert eine vollkommen andere Richtung bei der EU-Reform als der britische Premierminister David Cameron: mehr Arbeitnehmerrechte statt mehr Deregulierung.

Der Labour-Vorsitzende stimmte beim Referendum 1975 gegen die britische Mitgliedschaft in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft - was der damaligen Labour-Linie entsprach. Inzwischen hat er sich zu einer EU-freundlichen Haltung durchgerungen. "Großbritannien muss in der EU bleiben, weil dies der beste Rahmen für Handel und Kooperation im 21. Jahrhundert ist", sagt er. "Milliarden-Investitionen und Millionen Jobs hängen an unserer Beziehung zur EU." Doch das transatlantische Freihandelsabkommen TTIP lehnt Corbyn kategorisch ab, und den Umgang mit Griechenland bezeichnete er als "ökonomischen Kolonialismus“.

Kritiker werfen Corbyn vor nicht offensiv genug zu kämpfen. Parteiinterne Kritiker wie der ehemalige Innenminister Alan Johnson werfen ihm vor, nicht offensiv genug gegen den Brexit zu kämpfen. Corbyn kontert, seine Kampagne sei in den sozialen Medien und bei jüngeren Leuten außerordentlich erfolgreich. Sogar sein Vorgänger Ed Miliband tritt inzwischen mit ihm gemeinsam auf. "Dass er in der Vergangenheit Zweifel an der EU geäußert hat, macht sein Votum für den Verbleib erst recht überzeugend", sagt Miliband über Corbyn.

Trotzdem machen sich die Leiter der Remain-Kampagne Sorgen: In einem internen Papier, das der Zeitung The Guardian zugespielt wurde, heißt es, nur die Hälfte der Labour-Wähler habe erkannt, dass sich ihre Partei für den Verbleib in der EU ausgesprochen habe. Schuld daran könnten Abgeordnete wie Gisela Stuart sein, die offen von der Parteilinie abweichen. Die aus Bayern stammende Parlamentsabgeordnete ist Vorsitzende der Vote-Leave-Kampagne und kämpft an der Seite von Boris Johnson für den Brexit.

Der britische Gewerkschaftsbund Trades Union Congress (TUC) unterstützt dagegen die offizielle Labour-Position. Er warnt: "Vier Millionen Jobs sind im Falle des Brexits in Gefahr." Die britischen Wirtschaftsverbände setzten sich ebenfalls für den Verbleib in der EU ein: Der Industrieverband warnt zum Beispiel: "Die EU zu verlassen, würde einen wirtschaftlichen Schock verursachen, Wettbewerbsfähigkeit und den Finanzsektor schwer schädigen und Millionen Jobs vernichten." Die Wirtschaftsverbände berufen sich auf zahlreiche Gutachten, die voraussagen, dass der Brexit der Ökonomie schaden würde. Unterstützt werden sie dabei von Investoren wie BMW oder Siemens und fast allen großen Investmentbanken. Auch der Bauernverband wirbt für den Verbleib. Für seine Mitglieder hätte der Brexit weitreichende Folgen. Bis zu 50 Prozent ihres Einkommens stammen derzeit von Subventionen der EU.

Die Mehrheit der Unternehmer ist für den Verbleib in der EU, aber gerade unter Klein- und Mittelständlern und unter den Bauern gibt es eine lautstarke Minderheit, die für den Austritt wirbt. Sie sagen, es werde dem Land besser gehen, wenn es nicht mehr an EU-Verträge und Vorschriften gebunden sei. Die Brexit-Befürworter halten die Warnungen der großen Wirtschaftsverbände für Angstmacherei. Engere Beziehungen zu Ländern wie Indien und China seien wichtiger als der Handel mit Europa. Außerdem sei Europa auf den Handel mit Großbritannien angewiesen und werde dem Land auch nach einem Brexit den Zugang zum Binnenmarkt ermöglichen.

Fest steht jedoch, dass die Regierung im Falle eines Brexits erst neue Verträge mit der EU aushandeln müsste, um weiterhin die Vorzüge des Binnenmarktes zu genießen. Deshalb weisen Wirtschaftswissenschaftler darauf hin, dass sämtliche Analysen zu den Folgen des Brexits nur auf vagen Annahmen basieren. Solche Erklärungen verunsichern die Briten natürlich. Es ist also kein Wunder, dass etliche noch unsicher sind, wie sie heute abstimmen werden.

 

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