Jeremy Corbyn sorgt für Aufbruchstimmung in der Labour Partei

30.09.2015

                   Corbyn

Corbyn will eine andere Politik; er will aber auch eine andere Art des Politik-Machens. Er will Diskussionen, eine Politik von unten. Seit Corbyns Wahl vor zwei Wochen sind 50.000 neue Mitglieder in die Labour Party eingetreten.

Obwohl er kein brillianter Redner ist bekam Corbyn für seine erste Parteitagsrede viel Applaus: Für ein Plädoyer gegen die Modernisierung der britischen Atomwaffen, gegen eine britische Beteiligung an Luftschlägen gegen den IS in Syrien und dafür, dass Großbritannien mehr Flüchtlinge aufnehmen sollte. Corbyn will die Sparpolitik beenden, die Kürzungen im Sozialetat rückgängig machen, ein sozialeres Großbritannien schaffen: "Eine freundlichere Politik, eine solidarische Gesellschaft, die sich um die Mitmenschen kümmert, diese Werte werden wir in das Zentrum der Politik unseres Landes stellen."

Wie weit er dabei gehen will, das verriet er in Brighton nicht. Ob er zum Beispiel seine alte Forderung nach einer Verstaatlichung der Schlüsselindustrien aufrecht erhalten oder aus der NATO austreten will - dazu sagte Corbyn nichts.

Als der Wahlleiter auf dem Labour-Wahlparteitag  Anfang September die deutliche Mehrheit für Jeremy Corbyn verkündete, jubelten die Mitglieder. Corbyns drei Gegenkandidaten schauten kurz betreten, rafften sich dann aber auf und umarmten den neuen Helden der Stunde. "Wir könnten als ABBA-Revival-Band auftreten", witzelte Corbyn kurz darauf in seiner Rede vor dem Parteitag. Er beschwor die Einheit der Partei und appellierte: "Unsere Partei hat sich in den vergangenen drei Monaten verändert, sie ist enorm gewachsen, Hoffnung und Optimismus sind entstanden." Tatsächlich ist die Zahl der Mitglieder seit seiner Kandidatur im Juni deutlich gestiegen.  Die meisten neuen Mitglieder unterstützen Corbyns linken Kurs.

Die Partei sei "leidenschaftlicher, demokratischer und vielfältiger" geworden, sagte Corbyn.   An die neuen Mitglieder und Unterstützer gerichtet rief er: "Willkommen in unserer Partei und in unserer Bewegung".  Dann wandte er sich an diejenigen, die in den neunziger Jahren wegen des Rechtsrucks unter Tony Blair ausgetreten waren: "Willkommen zurück zu Hause".  Über die vielen jungen Leute, die seine Kampagne unterstützt hatten, sagte er: "Viele haben die Jungen zu Unrecht als unpolitische Generation abgeschrieben." In Wirklichkeit hätten sie lediglich von der traditionellen Politik genug gehabt:  "Sie haben die Schnauze voll,  vom grotesken Ausmaß an Ungerechtigkeit  und Ungleichheit in der Welt".  Zur aktuellen Flüchtlingskrise sagte er: "Lasst uns den Flüchtlingen mit Menschlichkeit und Mitgefühl begegnen.  Lasst uns für den Frieden in der Welt arbeiten, für eine sichere Welt, in der die Menschen nicht in Armut und in Flüchtlingscamps enden." Nach seiner kurzen Ansprache verabschiedete er sich vom Parteitag und machte sich auf zum Parliament Square in London, wo er seinen Appell  auf der Pro-Flüchtlings-Demonstration vor Zehntausenden wiederholte.

Der neue Vorsitzende hat zwar nicht die Mehrheit der Labour-Abgeordneten im Parlament hinter sich, aber eine breite Mehrheit der Mitglieder und Unterstützer der Partei,  sowie die meisten Gewerkschaften.  Als sich Labour nach der Wahlniederlage  im Mai und dem Rücktritt des geschlagenen Ed Miliband auf die Suche nach einem neuen Vorsitzenden machte, hatte kaum jemand Jeremy Corbyn auf dem Zettel. Alle gingen davon aus, dass das Rennen zwischen Andy Burnham und Yvette Cooper stattfinden würde, die beide unter Tony Blair und Gordon Brown Regierungserfahrung gesammelt hatten. Der rechte Parteiflügel unterstützte die Bildungspolitikerin Liz Kendall, der linke Flügel stellte daraufhin Jeremy Corbyn auf.  Die für die Kandidatur notwendigen 35 Nominierungen von anderen Abgeordneten hatte er erst kurz vor Meldeschluss beisammen.

Was dann geschah, damit hatte niemand gerechnet: In allen Ecken Großbritanniens kamen Hunderte zu Corbyns  Veranstaltungen. Der 66-jährige begeisterte vor allem junge Menschen, aber auch ältere, und viele Migranten. Corbyn meidet Anzüge und Krawatten, fährt Fahrrad und ist Vegetarier -  auch das finden  seine Fans gut.  Er gewann viele, die mit Labour vorher nichts am Hut hatten,  sprach gegen die Sparpolitik, gegen Kriegseinsätze, Atomkraftwerke und Studiengebühren. Corbyn warb für Steuererhöhungen und schlug vor,  Bahn, Post und Energiekonzerne zu verstaatlichen. Old Labour statt New Labour, sagen seine Kritiker. Aber nur mit Old Labour hätte er nicht so viel Begeisterung erzeugen können.  Seine Reden sind unaufgeregt und gut verständlich, anders als die geschliffene Mainstream-Rhetorik seiner Gegenkandidaten. Er gibt seinen Zuhöreren das Gefühl, dass er ihre Probleme kennt und sie ernst nimmt - und er erklärt sich zum Vorboten einer neuen linken Bewegung, ähnlich wie Syriza in Griechenland oder Podemos in Spanien.

Der Parteilinke hat Sympathien für die politische Linke in Griechenland. Den Umgang mit dem Land bezeichnete er als  "brutal". Die EU sieht er sehr kritisch. Doch einen Austritt der Briten will er nicht: "Wir können mit dem Zustand der EU nicht zufrieden sein, aber dies bedeutet nicht, dass wir uns abwenden sollen",  sagte er kürzlich dem "Guardian".

Über 15 000 Freiwillige trommelten für Corbyn, organisierten seine Auftritte und bespielten gekonnt soziale Medien wie Twitter und Facebook.  Alle 25 Sekunden gab es einen neuen Twitter-Post unter dem Hashtag #JezWeCan.  Der 66-Jährige ist der renitensteste Parlamentarier seiner Partei.  Als Abgeordneter stimmte er über 500-mal gegen die Parteilinie. Seit 1983 gewinnt er regelmäßig den Londoner Wahlkreis Nord-Islington. Dort leben auf der einen Seite viele ärmere Familien, auf der anderen Seite explodieren die Immobilienpreise wie in anderen Stadtteilen Londons. Die Kluft zwischen Arm und Reich wird wie in ganz Großbritannien größer - das ist eines der großen Themen des neuen Labour-Vorsitzenden.

Corbyn profitierte von dem neuen Urwahlverfahren, das sein Vorgänger Ed Milliband eingeführt hatte: Nicht nur 300.000 Partei-Mitglieder durften ihr Votum abgeben, sondern auch 150.000 Mitglieder von Labour-nahen Gewerkschaften und 112.000 registrierte Unterstützer der Partei. Letztere mussten umgerechnet vier Euro bezahlen und bestätigen, dass sie die Ziele von Labour unterstützen.  Eine große Mehrheit der Nicht-Mitglieder votierte für Corbyn, aber auch bei den Mitgliedern lag er vorn.  Der Parteilinke will seine Fans jetzt alle motivieren, in die Partei einzutreten. Sollte ihm dies gelingen, würde Labour  noch weiter  nach links rücken.  Corbyn kündigte außerdem an, er werde versuchen, Wähler von den Grünen und der linksliberalen Schottischen Nationalpartei für Labour zu gewinnen - anders als seine Gegenkandidaten, die vor allem jene zurück gewinnen wollten, die zu den konservativen Tories abgewandert waren. Aufgrund der deutlichen Mehrheit bei der Wahl zum Vorsitzenden zweifelt inzwischen kaum noch jemand daran, dass Corbyn  im Jahr 2020 als Labour-Kandidat für das Amt des Premierministers antreten wird. 

 
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