Giftgas und Hass

22.05.1995

Führende Mitglieder der Aum-Sekte packen über Hintergründe der Giftgasanschläge aus


Von Tina Stadlmayer

Wissen Sie so genau, was Ihre Untergebenen so treiben?“ fragte der verhaftete Guru Shoko Asahara, 40, den Ermittler. Seit seiner spektakulären Festnahme am Dienstag vergangener Woche sitzt der dicke Sektenführer bei spärlicher Kost in Untersuchungshaft und bestreitet alle Vorwürfe. Die Polizei glaubt, daß er für den Giftgasanschlag in der Tokioter U-Bahn verantwortlich ist, bei dem Ende März zwölf Menschen starben und über 5500 verletzt wurden.

Während sich der Guru aufs Scherzen verlegt, packen führende Mitglieder der Sekte „Aum Shinri Kyo“ (Höchste Wahrheit) eines nach dem anderen aus. Sie belasten Asahara schwer. Er habe den Anschlag und eine Reihe anderer Grausamkeiten angeordnet. Sektenarzt Ikuo Hayashi, 48, gab zu, am Morgen des 20. März einen Beutel mit flüssigem Saringas in die U-Bahn getragen, ein kleines Loch hineingestochen und dann den Zug schnell verlassen zu haben. Seiner Aussage nach verteilten Sektenmitglieder insgesamt fünf Beutel auf drei verschiedene Linien und richteten damit das Inferno in der U-Bahn an.

Hayashi gestand, er habe den entführten Aum-Gegner Kiyoshi Kariya auf dem Sektengelände festgehalten. Der Arzt berichtete, Kariya sei auf Anweisung des Gurus von einem anderen Sektenmitglied mit einer Spritze umgebracht worden. Die Aussagen verhafteter Aum-Jünger brachten noch mehr ans Licht: Die Sekte entführte schon vor sechs Jahren einen Rechtsanwalt mit seiner Frau und seinem kleinen Sohn. Der Anwalt hatte Klienten vertreten, die ihre Familienange-hörigen aus der Sekte wieder herausholen wollten.

Auch für den Giftgasanschlag im vergangenen Jahr im zentraljapanischen Matsumoto, bei dem sieben Menschen ums Leben kamen, sind die Asahara-Leute verantwortlich. Sektenmitglied Seiichi Endo, 34, versicherte der Polizei, der Meister habe sich gefreut, daß der Anschlag erfolgreich war. Das Attentat in Matsumoto war der Testlauf für den Angriff auf die Fahrgäste in der Tokioter U-Bahn. Der Guru und seine Jünger planten noch weitere Wahnsinnstaten: Auf ihrem Gelände am Fuße des heiligen Berges Fuji horteten sie tonnenweise giftige Chemikalien. In Rußland erstanden sie einen Hubschrauber und transportierten ihn in Einzelteilen nach Japan. Sie interessierten sich für den Kauf von Panzern und Atomsprengköpfen. Russische Militärs bildeten Asahara-Anhänger zu Panzerfahrern und Maschinengewehrschützen aus. Japanische Soldaten, die gleichzeitig Sektenmitglieder waren, versorgten Asahara mit Informationen über Waffen und Giftgas.

Shoko Asahara wollte Krieg führen – Krieg gegen die japanische Gesellschaft, die er haßte. Eine Riege junger Spitzenwissenschaftler stand ihm dabei mit blindem Gehorsam zur Seite. Sie stellten in ihren Labors chemische Waffen her und experimentierten mit tödlichen Bakterien. Der Guru organisierte die Führung seiner Sekte nach dem Vorbild einer Regierung. Hitler-Verehrer Asahara sagte für das Ende des Jahrtausends einen mörderischen Krieg voraus. Danach werde unter seiner Führung ein tausendjähriges Reich entstehen. Die Polizei vermutet, Asahara habe versucht, das Eintreffen seiner Voraussagen mit eigenen Mitteln zu beschleunigen. Religionsforscher Sadao Asami führt Asaharas Gesellschaftshaß auf die ärmlichen Verhältnisse zurück, in denen der halbblinde Guru aufwuchs. Er sei schon als Kind vielen Diskriminierungen ausgesetzt gewesen. Ehemalige Bekannte des Gurus berichten, er leide unter Größenwahn und habe unbedingt Premierminister werden wollen. Tatsächlich kandidierte Asahara 1990, wenn auch vergeblich, für das japanische Parlament. „Nach der Wahlniederlage wurde aus einer Gruppe religiös begeisterter Menschen eine Organisation, gezeichnet von düsterem Verfolgungswahn“, beschreibt die Sektenexpertin Shoko Egawa die Entwicklung der Sekte. „Als die Aum-Leute feststellten, daß sie in Rußland Waffen kaufen konnten, rüsteten sie auf, um die Gesellschaft anzugreifen.“

Die Japaner wissen, daß die Gefahr mit der Verhaftung Asaharas noch nicht vorüber ist, wenngleich die Paketbombe, die am Tag von Asaharas Festnahme im Tokioter Gouverneurspalast explodierte, nichts mit Aum zu tun haben soll. Viele Japaner fürchten einen neuen Giftgasanschlag und haben ein mulmiges Gefühl, wenn sie mit der U-Bahn fahren. Auch Yasunobe Ueto aus Kobe teilt diese Angst: „Es ist gut, daß sie Asahara verhaftet haben, aber ich befürchte, daß die Sekte noch immer Saringas besitzt.“ Der Angestellte Isuzu Hisamoto hofft, daß die Polizei den Fall bald endgültig lösen wird. Die Gefahr wirkt sich weltweit aus: Die Stadt Passau sagte einen geplanten Jugendaustausch mit ihrer japanischen Schwesterstadt Akita ab. Die Reaktion ist nicht ganz übertrieben. Experten gehen davon aus, daß die Sekte hundert Liter Saringas hergestellt und irgendwo versteckt haben könnte. Als Polizisten Yoshihiro Inoue, 25, ein führendes Sektenmitglied, festnahmen, fanden sie Chemikalien, aus denen eine größere Bombe gebastelt werden könnte. Sie glauben, daß Inoue einen Anschlag plante, um seinen Guru zu rächen.

Viele Japaner kritisieren, Polizei und Regierung hätten längst gegen die kriminelle Aum-Sekte vorgehen sollen. Spätestens seit dem Giftgasanschlag im vergangenen Jahr in Matsumoto sei klar, daß die Aum-Jünger gefährlich sind. Wegen seiner Unfähigkeit, auf Katastrophen richtig zu reagieren, wird Ministerpräsident Tomiichi Murayama inzwischen nur noch von einem Drittel der Japaner unterstützt. Immer mehr Stimmen fordern seinen Rücktritt.

05.09.2012 / Tina Stadlmayer

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