DIE ZEIT Verschwiegen und Vergessen

06.12.1991

Fünfzig Jahre nach dem Überfall auf Pearl Harbor: Die meisten Japaner wollen nicht an ihre Kriegsschuld erinnert werden


Von Tina Stadlmayer

Tokio, im Dezember

Als Schutzschild für deine Geliebten bist du in den fremden Ozean gefallen – Vater, schlafe in Frieden.“ Der 53jährige japanische Sänger Hidekatsu Tojo hat sein Lied den Toten des Pazifischen Krieges gewidmet. Sein Großvater, General Hideki Tojo (die „Rasierklinge“), war von 1941 bis 1944, also vom Angriff auf Pearl Harbor bis ein Jahr vor Kriegsende, japanischer Regierungschef. 1948 wurde er von den Alliierten „der Planung, Auslösung und Durchführung eines Aggressionskrieges“ für schuldig befunden und hingerichtet. Fünfzig Jahre nach Pearl Harbor erweist sich der Song seines Enkels als Flop auf dem japanischen Plattenmarkt. Den Militaristen ist er zu friedlich, den Friedensaktivisten ist er zu schnulzig – und die meisten Japaner wollen sowieso vom Krieg und von Pearl Harbor nichts wissen.

Japanische Historiker und Politiker interessiert allerdings in diesen Wochen die Frage: Soll sich Japan für den Angriff auf Pearl Harbor entschuldigen? Hochrangige Politiker, wie der neue Regierungschef Kiichi Miyazawa, halten sich aus der Diskussion heraus. Sie wollen vor dem auf Anfang Januar verschobenen Besuch des amerikanischen Präsidenten keine antiamerikanische Stimmung schüren. In einer Parlamentsdebatte gab der japanische Außenminister immerhin einen „Fehler der damaligen Regierung“ zu. Allerdings handelte es sich nur um eine Schlamperei: Die negative Antwort auf ein Ultimatum der Amerikaner (die Japaner verstanden sie als Kriegserklärung) wurde in Washington erst nach dem Beginn des Angriffs auf Pearl Harbor übergeben. Angeblich fand sich in der japanischen Botschaft niemand, der den englischen Text tippen konnte. So etwas werde nie wieder vorkommen, „weil Japan nie wieder einen Krieg erklären wird“, versprach der Außenminister.

Während sich die erste Garde in den vergangenen Wochen mit Erklärungen zurückhielt, nahm der stellvertretende Kabinettssekretär Nobuo Ishihara kein Blatt vor den Mund: Japan müsse sich nicht für Pearl Harbor entschuldigen, denn es sei nicht alleine für den Ausbruch des Krieges verantwortlich. Dies war seine Antwort auf den Vorschlag des Bürgermeisters von Honolulu, Vertreter Japans sollten sich bei den Gedenkfeiern zum Pearl-Harbor-Jahrestag in Hawaii entschuldigen. So wie Ishihara denken viele Japaner. Der ehemalige Schiffsfunker Koji Makino, heute 74 Jahre alt, sagt zum Beispiel: „Wenn wir uns für Pearl Harbor entschuldigen, dann müssen sich die Amerikaner für Hiroshima und Nagasaki entschuldigen.“ Seiner Meinung nach hätten die Amerikaner auf den Angriff vorbereitet sein müssen. Dieser Ansicht ist auch der amerikanische Autor John Toland. Der Fernsehkanal NTV plant für den 7. Dezember eine Sendung, in der er – Balsam für die japanische Seele – ebendiese Theorie belegen will.

Es gibt jedoch auch in Japan ganz andere Ansichten zu diesem Thema. Eine Gruppe von 82 „fortschrittlichen Professoren“ fordert die Regierung auf, Japans Verantwortung für den Krieg offiziell anzuerkennen“. Das Land habe den Krieg nicht erst mit dem Angriff auf Pearl Harbor, sondern bereits zehn Jahre vorher beim Einmarsch in die Mandschurei begonnen. Jetzt müsse es sich bei den Opfern entschuldigen und Entschädigungen zahlen. Für den 7. Dezember haben die Professoren ein Bürgertreffen organisiert, auf dem Kriegsveteranen über ihre Schuld erzählen werden. Nicht nur Pearl Harbor, sondern auch die grausamen Überfälle der kaiserlichen Armee auf China, Malaysia, Indonesien, die Philippinen und andere südostasiatische Länder stehen auf dem Programm. Die japanischen „Veteranen für den Frieden“ wollten ihre Entschuldigung bereits vor einigen Monaten bei einer Gedenkfeier in den Vereinigten Staaten vortragen, doch die „Vereinigung der Überlebenden von Pearl Harbor“ verhinderte die symbolische Aktion. Ihr Argument: „Auch die Juden laden keine Nazis zu ihren Gedenkfeiern ein.“

Die japanische Art der Selbstbezichtigung ist für Europäer und Amerikaner etwas Ungewohntes. Der 74 Jahre alte Iyozo Fujita, ein kahlköpfiger, greiser Mann mit buschigen Augenbrauen, war als Flieger beim Angriff auf Pearl Harbor dabeigewesen. Vor fünf Jahren kehrte er zum ersten Mal nach Hawaii zurück, um Blumen am Denkmal für die gefallenen amerikanischen Soldaten niederzulegen. Heute, so beteuert er, „sind alle Amerikaner meine Freunde“.

Das öffentliche Bekenntnis der eigenen Schuld ist eine typisch japanische Art der Vergangenheitsbewältigung. Der 75jährige Hiromichi Nagatomi zum Beispiel, ein ehemaliger Offizier der Geheimpolizei, erzählt in einer Tokioter Kirche von seinen Taten während des Krieges in China. Er war 1937 bei dem Massaker in Nanking dabei. Sechs Wochen lang mordeten und brandschatzten dort die japanischen Soldaten. Sie erschossen, enthaupteten und verbrannten zwischen 100 000 und 200 000 chinesische Männer, Frauen und Kinder. „Ich schoß auf diejenigen, die zu fliehen versuchten“, erzählt der alte Mann mit leiser Stimme. „Drei Monate lang habe ich in Nanking Menschen ermordet, ohne Reue zu spüren.“

Nagatomi ist nicht der einzige japanische Kriegsverbrecher, der sich selbst bezichtigt. In einem Theaterstück über einen Aufstand chinesischer Zwangsarbeiter im Norden Japans spielt sich ein ehemaliger Lageraufseher selber. Zwischen den Szenen erläutert der alte Mann Bilder von einem Gemetzel im Lager von Hanaoka: Ermordete Frauen und Kinder liegen vor den Toren. „Wir haben jeden umgebracht, der versuchte zu fliehen“, erzählt er dem Publikum. Die anderen Schauspieler, junge Leute von der Japanisch-Chinesischen Freundschaftsgruppe, lesen aus den Aufzeichnungen der Lagerinsassen vor. In Hanaoka erschlugen die Zwangsarbeiter vier japanische Wächter und liefen aus dem Lager. Von der harten Arbeit und dem kärglichen Essen geschwächt, kamen sie jedoch nicht weit. Viele wurden totgeprügelt, Hunderte ließen die Japaner verhungern.

In diesen Tagen wird in Tokio ein Musical über die Kriegsgreuel in China aufgeführt. Es handelt von der berühmten japanischen Schauspielerin Ri Koran („duftende Orchidee“). Sie lebte in den dreißiger Jahren in der Mandschurei, in der ihre Landsleute das Marionettenregime des letzten chinesischen Kaisers Pu Yi errichtet hatten. Ri Koran spielte die Hauptrolle in vielen japanischen Propagandafilmen. Nach dem Krieg wurde sie von den Chinesen verhaftet und nach Japan zurückgeschickt. Heute ist die ehemalige Schauspielerin Abgeordnete im japanischen Oberhaus. Vor der Aufführung von „Ri Koran – das Musical“ erzählt sie von ihrem großen Irrtum: „Ich dachte, meine Filme seien pure Unterhaltung und keine Propaganda – ich war so dumm.“ Das Stück zeigt die japanischen Eroberungskriege und endet mit Bildern der Atombomben-Explosionen über Hiroshima und Nagasaki. Viele ältere Japaner im Publikum weinen, als das Licht im Theatersaal wieder angeht. Musical-Direktor Keita Asari sagt: „Die jungen Japaner haben keine Ahnung, was vor fünfzig Jahren passiert ist.“ Er wolle ihnen mit dem Stück die Augen öffnen, denn in der Schule lernten die Kinder kaum etwas über den fünfzehnjährigen Krieg.

Der Geschichtsunterricht über die jüngste Vergangenheit ist ein Dauerthema. Seit 26 Jahren prozessiert der Historiker Saburo Ienaga gegen die Regierung. Sein Vorwurf: Schulbücher werden zensiert, die Darstellungen verharmlosen den Krieg. Ienaga hatte in seinem Buch über die grausamen Experimente der Geheimeinheit 731 geschrieben – das Schulministerium fand, dies sei zu kompliziert für die Schüler.

Ienaga steht mit seiner Kritik am Geschichtsunterricht nicht allein. Viele fortschrittliche Historiker beklagen, der Krieg stehe erst am Ende des Schuljahres auf dem Lehrplan und werde deshalb häufig nicht mehr behandelt. Die Kolonisierung Koreas und die grausamen Kämpfe in China, Malaysia und auf den Philippinen würden verharmlost. Über den Angriff auf Pearl Harbor stehen in den meisten Geschichtsbüchern nur wenige Zeilen. So ist es denn auch kein Wunder, daß viele Jugendliche nicht wissen, daß ihre Landsleute am 7. Dezember 1941, eine Stunde vor dem Angriff auf Pearl Harbor, die von den Briten besetzte Malaiische Halbinsel überfielen und Richtung Singapur marschierten. Eine zwölfjährige Japanerin, die mit ihren Eltern in Singapur lebt, erzählt: „In meinen japanischen Geschichtsbüchern habe ich nichts über den Angriff gefunden – ich wußte nicht, daß wir Singapur unrecht getan haben.“ Inzwischen versucht auch das japanische Schulministerium die peinlichen Bildungslücken zu schließen. Für die Schüler in Singapur ließ es ein einheimisches Lehrbuch übersetzen und einen Videofilm über die Invasion drehen.

Eine Gruppe von jungen japanischen Filmemachern dreht zur Zeit einen Dokumentarfilm, der in den Tokioter Kinos gezeigt werden soll. Sie interviewten einen Malaien, der die Invasion überlebt hatte. Er erzählte von einem Massaker in seinem Dorf: „Die japanischen Soldaten fragten: Wer ist Kommunist? Dann erschossen sie 300 Chinesen, die in unserem Dorf lebten. Einer warf ein kleines Kind in die Luft, und ein anderer schoß darauf. Zum Schluß zündeten sie alles an.“ Ein alter chinesischstämmiger Journalist berichtet: „In Singapur stellten die Militärs an den belebten Straßenecken und vor den Kinos die abgeschlagenen Köpfe der ermordeten Chinesen zur Schau.“ Ihm selbst sei kurz vor der Hinrichtung die Flucht aus dem Gefängnis gelungen.

Als in diesem Sommer zum ersten Mal ein japanischer Kaiser, Tenno Akihito, nach Malaysia reiste, konnte er der militaristischen Vergangenheit Japans nicht aus dem Wege gehen. Er legte einen Kranz nieder und sprach von „traurigen Ereignissen“ in der Geschichte. Eine offizielle Entschuldigung im Namen seines Landes wollte – oder durfte – er ohne Erlaubnis der Regierung nicht abgeben. Sein Vater, Kaiser Hirohito, hatte sich kein einziges Mal in ein asiatisches Nachbarland gewagt. Japans kürzlich abgelöster Ministerpräsident Toshiki Kaifu entschuldigte sich immerhin bei der chinesischen und der südkoreanischen Regierung für „vergangene Aggressionen“ seines Landes. Er verzichtete – im Gegensatz zu seinen Ministern – auch darauf, zum Jahrestag des Kriegsendes den berüchtigten Yasukuni-Schrein zu besuchen. Dort werden neben den japanischen Kriegstoten auch die vierzehn von den Alliierten hingerichteten Kriegsverbrecher, darunter General Hideki Tojo, verehrt.

Vielen japanischen Nationalisten gingen Kaifus Entschuldigungen für die militaristische Vergangenheit zu weit. Beim Besuch der niederländischen Königin Beatrix vor einigen Monaten hatte er sein „Bedauern“ ausgedrückt, „daß vielen niederländischen Kriegsgefangenen Leid zugefügt wurde“. Auf einer Pressekonferenz beklagten sich daraufhin mehrere japanische Journalisten: „Warum muß sich Japan so viele Jahre nach dem Krieg noch dauernd entschuldigen?“ Am Jahrestag des Angriffs auf Pearl Harbor bleibt den Japanern eine Entschuldigung erspart. Die amerikanische Regierung hat beschlossen, an den Gedenkfeiern in Hawaii keine ausländischen Gäste teilnehmen zu lassen.

Entschuldigen will sich aber auch Amerika nicht für die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki. Das stellte Präsident Bush Anfang der Woche in einem Fernsehinterview klar. „Wofür? Nicht von diesem Präsidenten.“ George Bush will, sicher ganz im Sinne der meisten Japaner, einen Schlußstrich ziehen. „Wir sagen: Gut, laßt uns die Sache vergessen. Gehen wir gemeinsam nach vorn.“

06.12.1991 / Tina Stadlmayer

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