Oberösterreichische Nachrichten
Die japanische Regierung denkt über das Verlegen der Hauptstadt nach

22.12.1995

Das Risiko von Erbeben ist in Tokio sehr hoch


Von Tina Stadlmayer

Wolkenkratzer und mehrstöckige Stadtautobahnen stürzen ein. Feuersbrünste rasen durch das Häusermeer. Rettungsfahrzeuge und Löschzüge haben keine Chance durchzukommen. Hunderttausende sterben unter den Trümmern und in den Flammen. Erdbebenexperte Tomoo Hirasawa geht davon aus, daß dieser Horror innerhalb der kommenden fünfzig Jahre in Tokio stattfinden wird. Die Katastrophe, die sich vor einem Jahr in der Einmillionenstadt Kobe ereignete, hat den Japanern vor Augen geführt, was passieren kann, wenn es den Großraum Tokio mit seinen 30 Millionen Einwohnern erwischt: Regierung und Verwaltung werden nicht mehr funktionieren, die Wirtschaft wird zusammenbrechen.

Der bislang vage Plan, den Regierungssitz aus Tokio auszulagern, hat neuen Auftrieb bekommen. Die Hauptstadt-Kommission, zusammengesetzt aus Abgeordneten, Wissenschaftlern, Architekten und Journalisten, hat der Regierung jetzt ihren Abschlußbericht vorgelegt. Nicht weiter als 300 Kilometer von Tokio entfernt wird nach diesem Plan eine neue Stadt aus dem Boden gestampft. Sie soll Sitz für das Parlament, die Regierung und den Obersten Gerichtshof sein. Die Hauptstadt wird, so die Experten, eines Tages 600.000 Einwohner haben und 9000 Hektar groß sein.

Innerhalb der kommenden zwei Jahre soll die Regierung über den Ort entscheiden. Ende des Jahrtausends könnten die Bauarbeiten beginnen - im Jahr 2010 würde die erste Parlamentssitzung in der neuen Hauptstadt stattfinden.

Das Projekt wird auf umgerechnet 1515 Milliarden Schilling veranschlagt. Die Kosten für neue Wohnungen und Verkehrswege sind darin allerdings nicht enthalten. In ihrem Abschlußbericht formulieren die Berater der japanischen Regierung konkrete Anforderungen an die neue Hauptstadt: der Ort müsse erdbebensicher sein, nicht zu weit von einem internationalen Flughafen entfernt und nicht zu nahe an einer großen Stadt.

Die Japaner diskutieren bereits seit dreißig Jahren darüber, den Regierungssitz aus dem übervölkerten und erdbebengefährdeten Großraum Tokio auszulagern. Das Leben in der Megastadt ist seitdem immer teurer und beschwerlicher geworden. Viele Tokioter wohnen in winzigen Wohnungen und müssen stundenlange Anfahrtszeiten zum Arbeitsplatz in Kauf nehmen. Der Ruf nach Dezentralisierung wurde deshalb in den vergangenen Jahren immer lauter.

Es wäre nicht das erste Mal, daß die japanische Hauptstadt umzieht: Tokio ist offiziell erst seit 1867 Residenz des Tenno. Nara, Kyoto und Kamakura waren in früheren Jahrhunderten die Hauptstädte. "Mit jedem Umzug began in Japan ein neues Zeitalter" sagt der Schriftsteller Ryotaro Shiba. Auch jetzt sei die Gesellschaft wieder auf dem Sprung in eine neue Ära.

Osamu Uno, der Vorsitzende der Hauptstadt-Kommission und frühere Chef des Industrieverbandes, erläutert: "Das zentralisierte und auf Tokio fixierte System hat nach dem Krieg eine wichtige Rolle gespielt. Für die Aufgaben des kommenden Jahrhunderts brauchen wir jedoch ein dezentralisiertes System." Er schlägt vor, den Regierungs- und Politapparat zu verkleinern. Regionen und Präfekturen sollen mehr Kompetenzen bekommen. Der Bau einer neuen Hauptstadt werde außerdem die Nachfrage ankurbeln und dazu beitragen, die Wirtschaftsflaute zu überwinden.

Das Megaprojekt hat jedoch auch viele Gegner. Sie sagen, der Umzug von Politikern und Bürokraten werde keine Entlastung für Tokio bringen. Mit dem Geld für den Aufbau einer neuen Hauptstadt könne Sinnvolleres angefangen werden. Es solle in den Umweltschutz, in mehr Verkehrsverbindungen und menschenfreundlichere Wohnungen investiert werden.

Doch das Wetteifern zwischen den Präfekturen um den Ort für die neue Hauptstadt hat längst begonnen. In der 150 Kilometer nördlich von Tokio gelegenen Präfektur Tochigi, die als möglicher Ort für die neue Hauptstadt im Gespräch ist, geht die Bodenspekulation bereits los. Die Regierung überlegt deswegen, die Preise für Grund und Boden in den zur Auswahl stehenden Gebieten einzufrieren. Sie befürchtet, die neue Hauptstadt werde sonst das gleiche Schicksal wie Tokio ereilen.

22.12.1995 / Tina Stadlmayer

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