Japan nach dem Erdbeben von Kobe

25.02.1995

Immer noch chaotisch


Von Tina Stadlmayer

Im Armeleuteviertel Nagata in Kobe sieht es auch sechs Wochen nach dem großen Erdbeben immer noch aus wie nach einem Bombenangriff. Wo früher alte Holzhäuser dicht an dicht standen, liegen Trümmerberge. Einige Straßenzüge sind völlig abgebrannt – nur noch schwarz verkohlte Mauerreste stehen aufrecht.

Während Baukolonnen in anderen Stadtteilen eifrig Schutt wegräumen, ist hier weit und breit kein Bagger zu sehen. Nagata ist das Viertel der kleinen Zulieferfirmen. Hier arbeiten und leben mindestens 9000 Koreaner, einige tausend Chinesen und etwa 5000 Vietnamesen. Sie haben beim Erdbeben nicht nur ihre Häuser, sondern auch ihre Arbeitsplätze verloren. Fast alle 450 Werkstätten für „kemikaru shuzu“, Plastikschuhe, sind zerstört.

Die Vietnamesin Tran Thi Cam Hong, 41, lebt mit ihren sieben Kindern seit vier Wochen im Zelt: „Nach dem Erdbeben mußten wir zwei Nächte lang bei Eiseskälte im Freien übernachten und wurden alle gleichzeitig krank.“ Aber sie haben schon Schlimmeres erlebt: Vor sechs Jahren flüchteten sie mit dem Boot über das offene Meer nach Japan. In den ersten Tagen nach dem Beben hatten die Bewohner des Zeltdorfs kaum etwas zu essen. „Die Versorgung ist immer noch chaotisch, mal gibt es etwas zuviel, mal zuwenig, mal sind fünf Ärzte hier, dann tagelang keiner“, kritisiert Alfred Weinzierl vom „Informationszentrum für ausländische Erdbebenopfer“. Der Deutsche fährt regelmäßig mit anderen freiwilligen Helfern vom nahegelegenen Osaka nach Nagata, um den Vietnamesen zu helfen.

Besonders schwierig, so Weinzierl, ist die Situation für die über tausend illegal in Japan lebenden Erdbebenopfer. Sie trauen sich nicht, die Hilfsangebote der offiziellen Stellen anzunehmen, weil sie befürchten, im Gefängnis zu landen oder des Landes verwiesen zu werden. Weinzierls Organisation hat einen Telefon-Beratungsdienst eingerichtet und verteilt Info-Blätter in sieben Sprachen. Viele Ausländer wissen zum Beispiel nicht, daß sie Anspruch auf Entschädigung haben, wenn sie verletzt sind oder ihr Haus zu mehr als 50 Prozent zerstört ist. Die Stadt Kobe hat inzwischen über 2000 Wohncontainer aufgestellt – viel zu wenige. Denn noch immer hausen in der Stadt 215 000 Leute in Turnhallen oder Zelten. Im Großraum Kobe zerstörte das Erdbeben über 100 000 Häuser. Bislang haben fast nur Familien mit pflegebedürftigen Mitgliedern eine Chance, per Losverfahren an eine Übergangswohnung zu kommen. Für Ausländer gibt es ein zusätzliches Problem: „Ich will nicht in eine Übergangswohnung“, sagt die Vietnamiesin Tran Thi Cam Hong, „weil ich mich mit den Japanern nicht verständigen kann.“ Obwohl sie seit sechs Jahren in Japan lebt, hatte sie keine Chance, die schwierige Sprache zu lernen, und ist auf die Hilfe ihrer Landsleute angewiesen.

Tran Thi Cam Hong nähte vor dem Beben in Heimarbeit Plastikschuhe für eine kleine Firma zusammen, die ei-nen größeren Hersteller belieferte. Der Konzern wird nicht warten, bis seine Zulieferer ihre Werkstätten wieder aufgebaut haben, sondern – wie viele andere japanische Firmen – die Produktion voraussichtlich nach Südostasien verlegen. Der Bürgermeister von Kobe, Kazutoshi Sasayama, kündigte an, seine zerstörte Stadt werde bald „wie ein Phönix aus der Asche“ schöner, moderner und sicherer auferstehen. Doch die vielen kleinen Zulieferbetriebe in Nagata haben nicht den langen Atem, um auf diese Verjüngung zu warten. Für sie und ihre Arbeiter kam mit dem Erdbeben das „Aus“.

AUSLÄNDER Rund ein Prozent der Bevölkerung Japans sind Ausländer (1 281 644) Die Volkszählung 1992 erfaßte aber nur die offiziell registrierten Ausländer. Die Zahl der illegal in Japan lebenden Ausländer kann nur geschätzt werden. Die größten Gruppen: 688 144 Koreaner, 195 334 Chinesen, 147 803 Brasilianer. 6883 Vietnamesen

25.02.1995 / Tina Stadlmayer

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