Sektenboom entsetzt die Nation

03.04.1995

Konkurrenzkampf treibt Japaner in die Fänge von Gurus


Von Tina Stadlmayer

Jeden Tag machen Polizisten auf dem Gelände der Sekte Aum (Höchste Wahrheit) neue unheimliche Entdeckungen: unterirdische Bunker, ein Chemielabor und Kulturen gefährlicher Bakterien, die Millionen Menschen töten könnten.

Ehemalige Sektenmitglieder packen aus: Sie berichten von Quälereien mit heißem Wasser, von Drogen, mit denen widerspenstige Sektenmitglieder ruhiggestellt wurden, von Kindern, die statt zur Schule zu gehen von religiösen Eiferern unterrichtet wurden. Die Öffentlichkeit hat sich in den vergangenen Jahren nicht besonders für die Sekte interessiert. Erst jetzt, nach dem Giftgasattentat von Tokio, wurden die unmenschlichen Praktiken der Fanatiker zum Medienthema. Erschrocken stellen viele Japaner fest, daß es in ihrem Land jede Menge solcher Sekten gibt: Sie locken junge Leute an, die in einer Gemeinschaft Geborgenheit suchen, und kassieren dann das Vermögen ihrer Mitglieder. Mitsuyuki Maniwa, Psychologe von der Universität Shizuoka: „In der Zeit des Wirtschaftsbooms haben sich die Japaner zu sehr auf den materiellen Erfolg konzentriert und die Suche nach dem Sinn des Lebens vernachlässigt. Das ist das Klima, in dem sich Sekten wie AUM ausbreiten.“

In Japan fallen die „Neuen Religionen“ auf besonders fruchtbaren Boden. 70 Prozent aller Japaner sind nicht fest an eine Religion gebunden. Sie gehen mit ihren dringenden Wünschen zum Shintoschrein; sie feiern Beerdigungen nach buddhistischem Ritual und lassen sich – weil es da so schön feierlich zugeht – in einer christlichen Kirche trauen. Vielen jüngeren Japanern reicht diese Oberflächlichkeit nicht mehr. Sie suchen eine tiefere religiöse Erfahrung und geraten in die Fänge der Gurus. Jedes Jahr entstehen in Japan etwa 100 neue Sekten. Sie verehren außerirdische UFOs, sie praktizieren Exorzismus oder predigen den Weltuntergang. Über zehn Prozent aller Japaner sollen mehr oder weniger eng mit einer der „Neuen Religionen“ zu tun haben.

Susumu Shimazono, Professor für Religionswissenschaften an der Tokio Universität, ergänzt: „Die Menschen sind heute sehr einsam. Sie wünschen sich die Geborgenheit in einer Gruppe und gleichzeitig mehr Kraft, um mit der Wettbewerbsgesellschaft fertig zu werden.“ Die Gruppe Aum (Höchste Wahrheit) gehört mit ihren 10 000 Anhängern zu den kleineren Sekten im Land. Sie hat jedoch überdurchschnittlich viele Akademiker, vor allem Naturwissenschaftler, in ihren Reihen. Sie sind dem Erfolgsdruck von klein auf besonders ausgesetzt. So liegt die Flucht in die Sekte nahe. Eine der größten japanischen Sekten nennt sich „Wissenschaft vom menschlichen Glück“. Sie zählt nach eigenen Angaben neun Millionen Mitglieder – allerdings sind davon nur etwa zehn Prozent aktiv. Ihr selbsternannter Messias Ryuho Okawa predigt seit Jahrzehnten einen gefährlichen Nationalismus: Das erwählte Volk der Japaner müsse die Vereinigten Staaten zerstören und China unterwerfen. Er wettert wie sein Kollege Asahara von „AUM Höchste Wahrheit“ gegen „Coca-Cola, Hamburger und Pornos“. Mit dem Verkauf von Okawas Werken und Spenden ihrer Mitglieder nimmt die Sekte im Jahr über 70 Millionen Mark ein.

Sekten – ein einträgliches Geschäft: Das erkannte auch ein Ableger des Mafia-Syndikats Yamaguchi-gumi und übernahm die Wadoku Kyokai, die Kirche des Friedens und der Moral. Die Gangster versprachen sich eine perfekte Fassade für ihre Machenschaften und wollten die Steuerbefreiung für Kirchen in Anspruch nehmen. Aber daraus wurde nichts – dieses eine Mal.

03.04.1995 / Tina Stadlmayer

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