Tod im Hightech-Land

23.01.1995

Trotz immenser Ausgaben für Bebenforschung keine Vorwarnung


Von Tina Stadlmayer

Um 5.46 Uhr, am Dienstag morgen, klopften Tod und Zerstörung an „die Tür Gottes“. Kobe, der Name der westjapanischen Stadt, wird in Zukunft für das größte Erdbeben Nippons seit 1923 stehen: mehr als 4300 Tote und immer noch mindestens 660 Vermißte.

„Das Licht auf dem Expressway ging aus, und dann stülpte sich die Erde nach oben“, berichtet Sachiko Hota, 62, aus Ashiya, einem Vorort von Kobe. „Die Front unseres Hauses fiel auf die Straße, und dann stürzte alles über mir zusammen.“ Frau Hota konnte sich mit eigener Hilfe befreien, ihren Mann Kiyoshi, 61, holten Nachbarn nach einer Stunde aus den Trümmern. Die Eheleute sitzen auf Kissen bei Temperaturen um den Gefrierpunkt auf der Straße und trinken Wasser. Vor ihnen die Ruine ihres Hauses, das ihre Familie vor 60 Jahren im traditionellen japanischen Stil erbaute. Aber sie sind mit dem Leben davongekommen – im Gegensatz zu vielen ihrer Nachbarn. Ihre Trauer tragen die Japaner nicht offen zur Schau. Es gilt als unhöflich, andere mit den eigenen Sorgen zu belasten. Und trotzdem spricht aus den gefaßten Worten von Yukio Okamoto, 51, tiefe Verzweiflung: „Meine Frau ist immer noch begraben. Ich habe einen Polizisten um Hilfe gebeten. Aber da meine Frau kein Lebenszeichen von sich gegeben hat, zog er wieder ab. Er müsse dort hingehen, wo noch Hoffnung bestehe, einen Lebenden zu bergen.“

Seit drei Tagen harrt er vor seinem zerstörten Haus aus. Jetzt durchzuckt Herrn Okamoto ein kleiner Hoffnungsschimmer: Er hat gehört, daß Lawinensuchhunde aus der Schweiz in Kobe eingetroffen sein sollen. Aber warum erst so spät? Herr Okamoto wirft der Stadtverwaltung und der Nationalregierung Versäumnisse vor. Und im fernen Tokio mußte der japanische Regierungschef Tomiichi Murayama auch zugeben, daß Fehler gemacht worden seien: Der Gouverneur der Präfektur wartete nach dem Beben vier Stunden, bevor er das Militär zu Hilfe rief. Es dauerte noch einmal fünf Stunden, bis die Soldaten eintrafen.

Auch die Feuerwehr hat versagt: Sie versuchte die Brände mit Leitungswasser zu löschen, das wegen der vielen Risse in den Rohren nicht lief. Sie flog Helfer ein, aber benutzte die Hubschrauber nicht, um Wasser abzuwerfen. Das Stadtviertel, in dem die Familie von Niki Takashi, 62, wohnte, brannte deshalb bis auf den Grund nieder. Herr Takashi klettert über die noch immer rauchenden Ruinen. Er hat die Knochen der Großmutter in einer Plastiktüte zusammengesammelt. Sie solle in einem buddhistischen Tempel im Familiengrab ihre letzte Ruhestätte finden. Westliche Beobachter sind erstaunt über die stoische Ruhe, mit der die Opfer des Bebens ihr Schicksal ertragen. „Shikata ga nai“ – „da kann man nichts machen“, sagen die Japaner. Sie stehen in langen Schlangen vor den Wasserstellen und warten in den Notunterkünften auf ihre Essensrationen. Niemand kommt auf die Idee, verwüstete Geschäfte und Wohnhäuser zu plündern, wie es nach dem großen Beben in Kalifornien vor einem Jahr geschehen war. Aber die Gelassenheit hat auch eine Schattenseite: Die Japaner sind Meister im Verdrängen. Als Beruhigungspille für das Volk gibt das Land jährlich umgerechnet 15,4 Milliarden Mark für Erdbebenforschung aus. 200 seismographische Zentren, über das ganze Land verstreut, beobachten die Verschiebungen der Erdplatten. Professor Andreas Vogel von der FU Berlin meint aber: „Das Volk sowie die Regierenden in Japan sind Opfer falscher Propheten, die jahrelang behaupteten, Erdbeben vorhersagen zu können.“ Tatsächlich ist es fast unmöglich, ein Beben genau zu lokalisieren oder zu terminieren. Sein Kollege Otto Henseleit pflichtet ihm bei: „Es gibt nur zwei Verfahren, Erdbeben vorherzusagen: Das eine ist Kaffeesatz, und das andere sind Kristallkugeln.“ Noch immer erschüttern Nachbeben den Raum um Kobe – und die Weltwirtschaft zittert mit: Könnte der Alptraum vieler Wirtschaftsexperten wahr werden und die Japaner ihre Kapitalexporte einschränken, um die zerstörte Region wieder aufzubauen? Das japanische Auslandsvermögen an Wertpapieren, Immobilienbesitz und Industrieanlagen belief sich Ende 1993 auf rund 610 Milliarden Dollar. Allein in Deutschland sind 7,3 Milliarden Dollar investiert. Das Münchner Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung rechnet damit, daß Nippons Firmen Kapital aus dem Ausland abziehen werden.

Auch westliche Regierungen wären dann betroffen. Denn die Japaner sind die Hauptgläubiger ihrer horrenden Staatsschulden. Allein 20 Prozent des amerikanischen Haushaltsdefizits werden durch Japan finanziert. Be-sonders die Sachversicherer haben wesentliche Teile ihres Vermögens in Staatsanleihen angelegt, die sie nun liquidieren müssen, um die Erdbebenschäden zu begleichen. Japanische Banker halten dagegen, daß nur etwa drei Prozent der Hauseigentümer in der betroffenen Region eine Erdbeben-versicherung abgeschlossen hatten. Der Schaden bei den Industrieversicherungen wird höher sein.

Sollte nun der japanische Staat auf den Finanzmärkten selbst als Kreditnehmer auftreten, könnte diese zusätzliche Nachfrage nach Einschätzung von Harmen Lehment, Direktor des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel, die weltweiten Zinsen nach oben treiben. Das sei zu eindimensional gedacht, sagen japanische Banker. Sie verweisen statt dessen darauf, daß die Kapitalflüsse aus Japan ins Ausland im vergangenen Jahr aufgrund des hohen Werts des Yen zurückgegangen sind. Die Finanzmärkte hatten gehofft, das Schlimmste sei überstanden, die weltweit hohen Realzinsen würden sinken. Aber nun, nach dem Beben, wird Japan als Kapitalgeber und Hoffnungsträger länger ausfallen als erwartet. Das Beben traf Japans industrielles Herz: In den zwei am stärksten betroffenen Präfekturen, Hyogo und Osaka, leben 14 Millionen Menschen, knapp zehn Prozent der japanischen Bevölkerung. Sie erwirtschaften zwölf Prozent der industriellen Produktion des Landes, umgerechnet 84 700 Milliarden Mark pro Jahr – das ist mehr als das gesamte Bruttoinlandsprodukt Chinas.

Die Liste der betroffenen Firmen liest sich wie ein industrielles Who is Who: Kobe Stahl zum Beispiel mußte zwei Werke schließen. Ebenso erging es Mitsubishi Electric und Daihatsu Motor. Auch Hersteller in Regionen, die nicht unmittelbar vom Beben betroffen sind, klagen über Versorgungsengpässe bei Teilen, die im Normalfall aus der Umgebung von Kobe zugeliefert werden. In der japanischen Wirtschaft ist Lagerhaltung verpönt. Betroffen ist die Computerproduktion im gesamten Land, weil ein Großteil der japanischen Halbleiter in der Präfektur Hyogo hergestellt werden.

Trotzdem sind Experten überzeugt, daß die Schäden für die japanische Wirtschaft zwar enorm, aber von kurzer Dauer sind. Zum einen gäbe es zur Zeit genügend überschüssige Kapazität, zum anderen würden die Ausgaben für den Wiederaufbau die Konjunktur anregen. Japanische Banker sprechen gar von einer Wirkung „wie ein riesiges Wirtschaftsförderungsprogramm“. Werden die Japaner aus dem Beben Lehren ziehen? Kazutoshi Sasayama, Bürgermeister von Kobe, verspricht den Bewohnern, die Stadt werde nach ihrem Wiederaufbau „sicherer und bequemer“. Allerdings: Eine effektive Stadtplanung sei nicht möglich, wenn man die „unwahrscheinliche Möglichkeit“ eines weiteren Erdbebens der Stärke sechs oder sieben „zu sehr miteinbeziehe“. Er geht davon aus, daß es das nächste Mal nicht mehr Kobe, sondern eine andere Region trifft.

Und so wird in der Nähe von Osaka fleißig an der längsten Brücke der Welt gebaut – sie soll sich über 3900 Meter erstrecken. Und in Tokio soll demnächst ein 1000 Meter hoher Wolkenkratzer in den Himmel wachsen. Natürlich alles erdbebensicher – genauso wie die Strecke des Shinkansen-Hochgeschwindigskeitszugs Kobe-Osaka, die am vergangenen Dienstag an 36 Punkten durch das Beben beschädigt wurde. Es begann in Kobe um 5.46 Uhr, eine Viertelstunde, bevor der erste Shinkansen den Bahnhof verlassen sollte. FETTE GEWINNE AN JAPANS BÖRSEN Das Wort Skrupel hat im Repertoire eines erfolgreichen Börsenspekulanten keinen Platz. Durch die Erdbebenkatastrophe geweckt, galt am Tokioter Finanzplatz Kabuto Cho der erste Gedanke nicht den Opfern, sondern dem Geldbeutel. Die Rechnung ist einfach: je größer die Zerstörung, desto mehr Wiederaufbau-Investitionen – folglich höhere Profitchancen

. Es galt, möglichst schnell herauszufinden, welche Baufirma in der Region Kobe ansässig ist und welcher Versicherungskonzern Angebote für Erdbeben im Programm führt. Als um neun Uhr Ortszeit endlich die Börse öffnete, prügelten sich die Aasgeier um die Bauaktien. Versicherungswerte mußten eiligst abgestoßen werden. Folge: Kursausschläge auf beiden Seiten. Topgewinner: die Bau-Aktien von Fudo Construction. Sie schossen um 38 Prozent in die Höhe. Versicherungen verloren an Wert. Die Erdbebenopfer bleiben auf der Strecke. Ihr von Experten geschätzter Schaden: 150 Milliarden Mark.

MODELLE FÜR ERDBEBENSICHERES BAUEN DIE MEISTEN HÄUSER IN KOBE sind auf weichen Untergrund gebaut. Sie sollten mit Klammern errichtet werden, da sie bei Erdbeben mitschwingen und dann auseinanderbrechen können. Elastische Baumaterialien können die Sicherheit erhöhen.

23.01.1995 / Tina Stadlmayer

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