Der Diktator verweigert die Wahrheit

22.12.1995

Der Ex-Diktator verweigert die Wahrheit und das Essen.

Koreas fruehere Praesidenten muessen mit der Todesstrafe rechnen - auch wegen des Massakers von Kwangju.


Seit der Verhaftung vor 18 Tagen hat Chun Doo Hwan nichts gegessen. Voellig entkraeftet - der ehemalige Militaerdiktator Suedkoreas will sich offenbar zu Tode hungern - wurde der 64jaehrige am Donnerstag morgen in ein Krankenhaus eingeliefert. Kurz darauf verkuendete die Staatsanwaltschaft ihre Anklage gegen den Ex-Praesidenten und Nachfolger Roh Tae Woo. Danach haben die beiden Ex-Generale den Militaerputsch von 1979 inszeniert, um an die Macht zu kommen. Sie sollen zudem fuer das Massaker von Kwangju verantwortlich sein, bei dem Regierungstruppen in der Stadt im Suedwesten des Landes 1980 mehr als 1000 Buerger niedermetzelten, die gegen die Diktatur demonstrierten. Beide Ex-Praesidenten muessen mit der Todesstrafe rechnen.

Am vergangenen Dienstag verabschiedete das Parlament in Seoul ein Gesetz, nach dem die Verantwortlichen fuer den Putsch und das Massaker bestraft werden sollen. Die Buerger von Kwangju fordern dies seit 15 Jahren. "Ich habe nur einen Wunsch: Chun Doo Hwan muss gehenkt werden", sagt Kan Sung Sun, die Witwe eines damals erschossenen Busfahrers. Die zierliche Frau steht vor einem Grabstein auf dem Mangwol Dong Friedhof in Kwangju und betrachtet das Bild ihres damals 28 Jahre alten Ehemannes. Sie spricht sich ihren Schmerz von der Seele: "Mein Mann hatte gerade einen freien Tag. Er ging wie die meisten Buerger der Stadt zum Platz vor der Provinzbehoerde. Dort sah er ein kleines Kind liegen. Als er es hochnehmen wollte, schossen die Soldaten." Der Geheimdienst, sagt Frau Kan, habe ihr spaeter viel Geld geboten, wenn sie die Leiche ihres Mannes auf einen anderen Friedhof verlege. Sie lehnte ab, obwohl sie das Geld gut haette gebrauchen koennen, um die beiden Soehne durchzubringen: "Ich fand, die Seelen der Opfer des Massakers sollten zusammenbleiben."

Die Schergen der Militaerdiktatur wollten vermeiden, dass der staedtische Friedhof zum Mahnmal wird. Doch genau das ist geschehen. Ueber den Graebern von 125 Opfern des Massakers wehen Spruchbaender mit der Aufschrift: "Tod den Taetern". Karikaturen zeigen die "Verbrecher, die bestraft werden muessen": die beiden Ex- Generale und den damaligen US-Praesidenten Ronald Reagan. Viele Buerger Kwangjus werfen der US-Regierung Mitverantwortung fuer das Massaker vor. Grosse Teile der suedkoreanischen Streitkraeft standen damals unter US-Kontrolle. Die Truppen, die den Aufstand der Buerger und Studenten am 27. Mai endgueltig niederschlugen, waren vom US-Oberbefehlshaber extra dafuer freigestellt worden. Die Tragoedie von Kwangju begann am 17. Mai 1980. Damals verhaengte die Militaerjunta aus Chun Doo Hwan und Roh Tae Woo das unbegrenzte Kriegsrecht. Die Militaers schlossen alle Hochschulen und liessen zahlreiche Politiker, unter ihnen Oppositionsfuehrer Kim Dae Jung, festnehmen. In Kwangju, der Hauptstadt von Kims Heimatprovinz, begannen die Studenten am naechsten Tag gegen das Kriegsrecht und die Festnahmen zu demonstrieren. Die Junta schickte Fallschirmjaeger einer Spezialkampftruppe los. Die offenbar unter Drogen stehenden Soldaten stachen mit Bajonetten jeden nieder, der sich ihnen in den Weg stellte. Diese Brutalitaet weckte den Hass der Bevoelkerung. In den naechsten Tagen gingen 100 000 Menschen auf die Strasse. Nach und nach besetzten bewaffnete Demonstranten die oeffentlichen Einrichtungen. Sechs Tage lang wurde Kwangju von Buergerausschuessen kontrolliert. Am 27. Mai stuermte das Militaer die Stadt dann mit Hubschraubern und Panzern. Ueber die Zahl der Todesopfer wird bis heute gestritten. Offiziell sind es 193, Augenzeugen sprechen von mindestens 1000.

Park Young Sun ist Vorsitzender des "Verbandes der Verletzten des 18. Mai 1980". Der ehemalige Student der Medizintechnik war dabei, als die Buerger von Kwangju die Provinzbehoerde besetzten. Mit eindringlicher Stimme erzaehlt der heute 53jaehrige: "Wir riefen ,Nieder mit Chun Doo Hwan! Nieder mit der Militaerdiktatur!' Ploetzlich knallten Schuesse. Eine Kugel durchschlug meinen Knoechel. Im Krankenhaus flehte ich die Aerzte an: Bitte amputieren Sie nicht das ganze Bein. Sie zersaegten den Knoechel und setzten ihn wieder zusammen. Heute ist mein rechtes Bein kuerzer als das linke."

Park Young Sun kritisiert, die Verletzten und die Hinterbliebenen der Todesopfer seien bis heute nicht angemessen entschaedigt worden. Er fordert die Verantwortlichen von damals auf, "ihre Luegen zu widerrufen": "Die Buerger Kwangjus, die fuer die Demokratie auf die Strasse gingen, waren keine Kommunisten und keine nordkoreanischen Agenten." Mit dieser Behauptung hatte Chun Doo Hwan den Einsatz der Soldaten gerechtfertigt. Gemeindepfarrer Cho Bio wohnt neben seiner schoenen neuen Backsteinkirche am Rande Kwangjus. Ueber seiner Couch haengt ein Bild, das ihn zusammen mit dem Papst zeigt. 1980 suchten die Buerger Kwangjus in den christlichen Kirchen Zuflucht vor den ausser Rand und Band geratenen Soldaten. Cho berichtet, dass sich viele Koreaner spaeter aus Dankbarkeit fuer die Hilfe taufen liessen. Der Geistliche erinnert sich noch an jede Einzelheit des Massakers, das am Pfingstfest 1980 begann: "Ich sah eine Schuelerin tot und splitternackt auf der Strasse liegen. Sie Soldaten hatten ihr die Brueste abgeschnitten." Er faehrt fort: "Sie nahmen keine Ruecksicht auf Kinder, Alte oder Frauen. Eine schwangere Frau ging vors Haus, um zu schauen, ob ihr Mann von der Arbeit zurueckkommt. Da stuerzten sich die Soldaten auf sie, beschimpften sie, stachen ihr mit dem Bajonett in den Bauch und rissen das ungeborene Baby heraus. Das habe ich wirklich gesehen." Zu Kwangju gibt es in Suedkorea bis heute zwei Meinungen. Die einen halten die Opfer fuer kommunistische Stoerenfriede, die zur Ruhe gebracht werden mussten. Sie sagen, ueber den genauen Hergang der Militaeraktion und die Verantwortlichen solle nicht weiter nachgeforscht werden. Die anderen fordern lueckenlose Aufklaerung des Massakers. Als 1993 mit Kim Young Sam zum ersten Mal ein Zivilist Staatspraesident wurde, hofften sie, dass die Verantwortlichen bestraft wuerden. Doch Kim Young Sam, der 1980 als Oppositionsfuehrer auf der Seite der Demonstranten stand, hatte seine Partei mit der der Generale verschmolzen. Er glaubte auf seine Vorgaenger Ruecksicht nehmen zu muessen. Immer wieder erklaerte er, die Geschichte, nicht das Gericht, solle ueber Kwangju entscheiden. Die Staatsanwaelte stellten das Verfahren in diesem Sommer ein. Sie hatten die Ermittlungen hinausgezoegert, bis die Straftat verjaehrt war.

Erst vor wenigen Wochen wendete sich das Blatt, als Kim Young Sam das Sondergesetz vorschlug. Viele Buerger von Kwangju sind froh, dass die beiden Generale endlich im Gefaengnis sitzen. Sie sind jedoch misstrauisch gegenueber dem Praesidenten, der in der Vergangenheit schon so oft seine Meinung aenderte: "Ich glaube, das Ganze ist ein politisches Manoever", sagt Pfarrer Cho: "Kim Young Sam will davon ablenken, dass er selbst tief im Korruptionssumpf steckt." Frau Kan Sung Sun ist ebenfalls skeptisch:"Kim Young Sam hat uns 15 Jahre lang belogen. Ein neues Spezialgesetz ist nicht genug."

22.12.1995 / Tina Stadlmayer

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