So ein Schweineärger

26.05.2014

Der Nationalpark New Forest südlich von London setzt auf nachhaltigen Tourismus. Tausende halbwilde Ponys laufen dort frei herum.


Der Nationalpark New Forest südlich von London setzt auf nachhaltigen Tourismus. Tausende halbwilde Ponys laufen dort frei herum.

Achtung! Abbremsen! Mitten auf der Straße steht eine fette schwarz-weiße Sau. Ihre drei Ferkel wühlen am Straßenrand nach Eicheln. Gemächlich setzt sich das Schwein in Gang und lässt uns vorbeifahren. Einige Kurven weiter bremsen wir schon wieder. Diesmal weiden braune und schwarze Ponys und Fohlen am Straßenrand. Wenig später überquert eine Kuh mit ihrem Kälbchen die Straße.

Im Nationalpark New Forest, etwa eineinhalb Stunden südlich von London, sind Tiere auf der Straße, in Vorgärten und auf Parkplätzen ein alltäglicher Anblick. Aber die meisten sind natürlich da, wo sie hingehören: auf den Wiesen und in den Wäldern. Die Gegend ist berühmt für ihre 4.500 halbwilden Ponys und ihre monatelang frei lebenden Esel und Rinder.

Im Herbst dürfen auch noch die Hausschweine frei herumlaufen. Sie sollen die vielen abgefallenen Eicheln fressen, die für die Ponys und Rinder giftig sind. Die Schweine übernehmen diesen Job gerne. „Und sie werden dabei schön fett für den Weihnachtsbraten“, erläutert Richard Stride diesen speziellen New-Forest-Kreislauf.

Stride ist Commoner, also ein Landwirt, dessen Tiere im New Forest frei grasen dürfen. Er ist aber auch Verderer, das heißt, er wurde von den anderen Bauern in den zehnköpfigen Verderers‘-Court gewählt, der im New Forest alle wichtigen Entscheidungen über den Umgang mit der Natur und den Tieren trifft. Stolz zeigt uns der 61 Jahre alte Engländer mit der typischen Schirmmütze auf dem Kopf das am Waldrand stehende Haus seines Sohnes. „Ist das nicht ein wunderbarer Platz für ein Haus? Ein Paradies!“ Zwanzig Schweine und etliche Ponys und Rinder der Familie Stride sind in den Wäldern rund um das Haus unterwegs. „Und wie fangen sie die Tiere wieder ein?“, fragen wir erstaunt. „Kein Problem“, sagt Stride, „die Schweine und Rinder kommen freiwillig wieder nach Hause und die Ponys werden nur einmal im Jahr eingefangen.“ Das Recht, die Tiere frei herumlaufen zu lassen, stammt aus dem Jahr 1079, als Wilhelm der Eroberer „Nova Foresta“ zu seinem Jagdgrund erklärte und das für die Jagd hinderliche Aufstellen von Zäunen verbot. Der New Forest ist also weder neu, noch besteht er vornehmlich aus Wald. Wiesen und Heideland machen über die Hälfte des Nationalparks aus. Dort wachsen vor allem Gras, Ginsterbüsche und Heidekraut. Wald und Heide sind von Wanderwegen und Fahrradrouten durchzogen. Gleich bei unserer ersten Wanderung erleben wir einen magischen Moment: Hinter einem großen Ginsterbusch kommt plötzlich ein braunes Pony hervor. Hinter ihm folgt ein weißes und noch eines und noch eines. Ergriffen sehen wir zu, wie sich die ganze Herde in Bewegung setzt und über die weiten Wiesen Richtung Waldrand galoppiert.

Zu zahm ist auch nicht gut

Wenig später begegnen wir einer anderen Herde, die friedlich zwischen den Büschen grast. Eines der Ponys kommt zutraulich auf mich zu. Obwohl ich es gerne streicheln würde, halte ich mich zurück. Ich erinnere mich an ein Kapitel in unserem New-Forest-Führer. Dort stand, man solle die Tiere nicht streicheln, weil sie sich sonst zu sehr an die Menschen gewöhnen und sich das Risiko erhöht, dass sie in die Ortschaften laufen. Die Ponys leisten durch fleißiges Grasen auch einen Beitrag zum Erhalt der lichten Wälder und der Heidelandschaft. New Forest Ponys sind weniger empfindlich als andere Pferde, Wind, Regen und Kälte können ihnen nichts nichts anhaben. Mit ihren rauen Zungen fressen sie sogar stacheligen Ginster und die harten Blätter der Stechpalme. Nicht alle Ponys leben allerdings frei. Einige von ihnen werden in Reitställen gehalten, die Ausritte anbieten. „Die Ponys sind sehr friedlich und etwas kleiner als Pferde. Sie eigenen sich besonders gut dazu, von Kindern geritten zu werden“, erzählt Landwirt Richard Stride. Kennzeichen für die Ponys Er gibt uns den Tipp, dass am nächsten Tag in der Nähe des Ortes Burley eine „Drift“ stattfindet. Dabei schwärmen die Landwirte und ihre Helfer auf Pferden und zugerittenen New-Forest-Ponys aus, um die frei herumziehenden Ponys einzufangen und zu kennzeichnen. Als wir am Driftplatz mitten in der Heide ankommen, stehen die Helfer mit langen Stangen schon erwartungsvoll da. Wir sollen ganz am Rand des Platzes stehen bleiben, rufen sie uns zu. Plötzlich kommt Bewegung in die Menge. Laut „Hoh!“ und „Heh“ rufend preschen die Reiter heran, in ihrer Mitte einige halb-wilde Ponys mit ihren Fohlen. Gemeinsam mit den Helfern treiben sie die eingefangenen Tiere hinter die Einzäunung. Dort werden die Ponys auf Krankheiten untersucht und bekommen das Brandzeichen des Hofes, in dessen Nähe sie eingefangen wurden. Denn die Ponys leben zwar frei, aber sie gehören alle zu einem der Höfe im New Forest. Ihren Besitzern bringen die Ponys im Gegensatz zu den Rindern und Schweinen allerdings kaum etwas ein. „Früher waren sie von den Pferdefreunden begehrt, aber heute können sich die Leute keine Reitponys mehr leisten“, berichtet Landwirt Stride. Deshalb entlassen die Commoner nur noch wenige Hengste in die Freiheit. So wollen sie verhindern, dass sich die Tiere weiter vermehren und eines Tages nicht mehr genügend Gras für alle da sein wird.

Esel und Pferde

Doch in diesem Jahr geht die Rechnung nicht auf: „Weil es weniger Hengste gab, haben sie sich von den Eseln decken lassen“, erzählt Stride: „Jetzt müssen wir dafür sorgen, dass weniger männliche Esel draußen herumlaufen.“ Kaum ein Commoner kann heute noch von seinen Tieren leben. Stride und seine Söhne arbeiten hauptberuflich für die Forestry Commission, die das Miteinander von Tourismus, Natur und frei laufenden Tieren im New Forest organisiert.

Natürlich kommt es immer wieder zu Konflikten: „Touristen füttern die Ponys und wundern sich, wenn diese dann zudringlich werden“, erzählt Stride. „Oder sie lassen ihre Hunde frei laufen und unsere Ponys und Schweine angreifen.“ Das größte Problem aber sind die Raser: „Jede Woche werden einige Ponys oder Esel von Autos totgefahren“, klagt Stride. Die Landwirte legen den Ponys reflektierende Halsbänder an, um noch mehr Unfälle zu verhindern. Ab und zu gibt es auch Ärger wegen der frei laufenden Schweine: „Einmal ist eines in den Supermarkt in Brockenhurst eingedrungen. Ein anderes mussten wir aus einem Swimmingpool fischen.“ Stride schimpft ausgiebig über die „reichen Stadtmenschen, die hier Häuser kaufen, die Grundstückspreise in die Höhe treiben und unser Leben nicht verstehen“. Unterschiedliche Lebenseinstellungen prallen hier hart aufeinander: Mitten im kleinen Städtchen Lyndhurst bietet ein Autohändler Ferraris und Maseratis an. Autos und Motorräder knattern durch den Ort und stauen sich vor den Ampeln.

Uralte Eichen

Wenige Kilometer entfernt begegnen wir bei unserer Waldwanderung stundenlang keinem Menschen. Zwischen Buchen und Stechpalmen steht plötzlich eine riesige Eiche. „Sie hat fast sieben Meter Umfang und dürfte 450 Jahre alt sein“, sagt unsere Begleiterin Gillie Hayball, Leiterin der National Park Ranger. Ihre Aufgabe ist es, den Besuchern das ökologische Gleichgewicht im New Forest zu erklären. „Leider gibt es nicht mehr viele alte Eichen, denn aus dem Holz wurden früher die Schiffe gebaut. Sehr viele Eichen wurden im 18. Jahrhundert für Admiral Nelsons Flotte abgeholzt“, erzählt die Rangerin. Ein graues Eichhörnchen flitzt an uns vorbei. Auch dazu fällt ihr sofort eine Information ein: „Die Grauen sind eingewandert und haben unsere Roten ausgerottet.“ Sie macht uns auch darauf aufmerksam, dass die Laubbäume erst in etwa zwei Meter Höhe Blätter tragen. Darunter haben die Ponys alle abgefressen. „Aber noch lieber fressen sie junge Baum-Sprösslinge. Das ist gut so, denn dadurch bleibt der Wald licht, für die Tiere bewohnbar und für die Menschen begehbar“, sagt Gillie Hayball.

Im Sumpf steht wieder das Wasser Ökologin Sarah Oakley zeigt uns eine malerische Waldlichtung, durch die sich ein Bach schlängelt. „Wir haben ihm sein altes Bett zurückgegeben, jetzt ist hier wieder natürliches Sumpfland, in dem Frösche und andere Reptilien leben.“ Der Bach war vor 150 Jahren begradigt worden, um den Sumpf auszutrocknen. Inzwischen hat man erkannt, dass der Sumpf ein schützenswerter Lebensraum ist. „Wie ein Schwamm bewahrt er das Wasser und gibt es nach und nach an den Wald ab“, erläutert die Ökologin.

Das empfindliche Gleichgewicht zwischen Menschen, Tieren und Natur ist in diesem relativ dicht besiedelten Nationalpark nicht einfach zu wahren. Zu den 34.000 Einwohnern kommen im Jahr noch 13 Millionen Touristen hinzu. Die Regionalverwaltung wirbt sehr dafür, dass die Touristen nicht mit dem Auto, sondern mit dem Zug anreisen sollen. Sie zeichnet Betriebe, die besonders nachhaltig wirtschaften, mit dem Zertifikat „Green Leaf“ aus und fordert Touristen auf, gezielt nach Unterkünften und Geschäften mit dem „Grünen Blatt“ zu suchen. In jedem Ort im New Forest gibt es Elektroautos, E-Bikes und Fahrräder zu mieten. Im Sommer bietet ein oben offener Touristenbus eine Fahrt zu den schönsten Orten an.

Die Betreiber unseres gemütlichen Bed & Breakfast „Cottage Lodge“ in Brockenhurst verarbeiten in der Küche vor allem Lebensmittel von lokalen Anbietern. Das Frühstück, mit Omelette, Pilzen, Bohnen, Würstchen, Toast, Marmelade und Früchten schmeckt wunderbar. Lokale Produkte Abends verwandelt sich der Frühstücksraum in das ausgezeichnete, aber etwas teure Feinschmeckerlokal „Fallen Tree“, das von anderen Betreibern geführt wird. Auch dieses Restaurant setzt wie die meisten anderen Lokale, Hotels, Pensionen, Cafés und Pubs auf Produkte aus der Gegend.

Das bekannteste Pub ist das „Royal Oak“ in Fritham. In dem alten Holzhaus aus dem 17. Jahrhundert sitzen Einheimische und Touristen beim Mittagessen. Es gibt ausdrücklich keine Pommes, dafür aber eine warme Suppe, Pasteten, Bauernschmaus und viele Sorten Ale vom Fass.

Waldarbeiter und Landwirte treffen sich hier auf ein, zwei oder noch mehr Pints. Lauthals verkünden sie, wie hart das Leben im New Forest ist – und wie unendlich viel schöner als in der Stadt.

INFOS ZUM NEW FOREST

Anreise: Mit dem Zug von London Waterloo Station nach Ashurst, Brockenhurst oder Lyndhurst. Fahrzeit etwa 90 Minuten. Die Hin- und Rückfahrt ist ab 54 Euro erhältlich. Flug: Einen Hin- und Rückflug von Deutschland nach London gibt es ab 40 Euro. Flüge über Paris oder Amsterdam nach Southampton kosten ab 300 Euro. Übernachtung: Cottage Lodge New Forest B&B, Sway Road, Brockenhurst. Doppelzimmer mit Frühstück 95 Euro bis 120 Euro. cottagelodge.co.uk Literatur: Emily Laurence Baker: Slow New Forest. Bradt Travel Guides. März 2013, 12 Euro Weitere Infos: New Forest National Park Verwaltung: newforestnpa.gov.uk, Informationen für Touristen: thenewforest.co.uk, New Forest Volunteer Rangers: newforestvrs.org.uk, Geführte Touren: hiddenbritaintours.co.uk
So ein Schweineärger