Die Restschule der Nation

12.02.2004

Viele Hauptschulabgänger beherrschen nicht einmal grundlegende Kulturtechniken wie Lesen und Schreiben - was hier gespart wird, kommt den Staat in Form von Sozialhilfe und Folgekosten der Jugendkriminalität teuer zu stehen


Von Tina Stadlmayer

Ein rotes Backsteingebäude. Die Werner-Stephan-Hauptschule in Tempelhof sieht aus wie so viele in Berlin. Doch diese Hauptschule hat im Gegensatz zu den meisten anderen einen guten Ruf. Hier büffeln 300 Schüler aus 37 Nationen. Es gibt Förderklassen für Neuankömmlinge, die ohne Deutschkenntnisse aus der Türkei, aus Irak oder Afghanistan kommen. Die Schüler stellen die Schulregeln selbst auf, sie schreiben Putzpläne für die Klassenzimmer und betreiben die Cafeteria als Schülerfirma. „Gerade Hauptschüler haben beim Schulwechsel schon negative Erfahrungen hinter sich. Sie sind in der Grundschule nie mitgekommen, oft verhaltensauffällig gewesen. Eine unserer Hauptaufgaben ist, die Schüler wieder aufzurichten“, sagt Schulleiter Siegfried Arnz. „Wir arbeiten intensiv an den Deutschkenntnissen und bemühen uns, jeden Schüler individuell zu fördern.“ Wenn zum Beispiel im Erdkundeunterricht das Thema „Eroberung“ drankommt, dürfen die Schnelleren im Internet recherchieren. Die anderen bekommen Texte, die ihrer Lesefähigkeit entsprechen.

Damit hat diese Schule die Grundidee des erfolgreichen finnischen Bildungssystems übernommen: Die individuelle Förderung der Schüler. Das Konzept hat auch in Deutschland Erfolg: Während an Berliner Hauptschulen im Schnitt jeder dritte ausländische Jugendliche vorzeitig abbricht, sind es an der Werner-Stephan-Schule nur fünf Prozent.

Die Hauptschulen sind die Restschulen der Nation. Weil Kindergärten und Grundschulen benachteiligte Schüler nicht ausreichend fördern, landen die meisten von ihnen auf Hauptschulen. Egal ob mit oder ohne Abschluss, Hauptschulabgänger haben kaum noch Chancen auf einen Ausbildungsplatz. Das deutsche Schulsystem ist nicht einmal in der Lage, allen Lesen und Schreiben beizubringen. Damit werden die Jugendlichen ihrer Zukunft beraubt, und dem Staat gehen die dringend benötigten Fachkräfte verloren.

Jeder Euro, der an den Hauptschulen gespart wird, kommt den Staat später in Form von Sozialleistungen und Folgekosten der Jugendkriminalität teuer zu stehen. „Hauptschulen werden nur gebraucht, damit die besseren Schulen ungestört arbeiten können. Ein wirtschaftliches Interesse daran besteht kaum“, kritisiert der Leiter der vorbildlichen Werner-Stephan-Schule. Viele Hauptschulabgänger sind nicht ausbildungsfähig, weil sie grundlegende Kulturtechniken nicht beherrschen. Wer einen Auszubildenden sucht, nimmt lieber einen Realschulabgänger. In manchen Betrieben haben sogar nur Abiturienten eine Chance.

Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) führte im vergangenen Jahr eine Umfrage bei 8000 Ausbildungsbetrieben durch. Jede zweite Firma beklagte, dass die Lehrlinge nachqualifiziert werden müssten. „Die Betriebe müssen während der Ausbildung einen hohen zusätzlichen Aufwand erbringen, weil die Hauptschulen das nicht leisten“, sagt Berit Heintz, Referentin für Schulpolitik des DIHK. Die Firmen organisieren zum Beispiel Kurse für Grundrechenarten und Rechtschreibung.

Auf den Hauptschulen landen fast nur noch Jugendliche aus bildungsfernen Familien. Die Schulen können die sozialen Defizite der Familien nicht auffangen. Dazu kommt das enorme Sprachproblem. Viele Hauptschüler haben ausländische Eltern. Sie reden untereinander in ihrer Muttersprache oder in verstümmeltem Deutsch. Deutlich besser als der Ruf der Hauptschulen ist das Image der Realschulen. Die vom Deutschen Industrie- und Handelskammertag in Auftrag gegebene Studie „Bildungsgang Realschule“ kommt zu dem Schluss: „Der Bildungsgang ist interessant für die Abnehmer. Der Abschluss ist vielseitig verwertbar.“ Realschulabsolventen hätten zudem eine bessere Einstellung zur Arbeit als Hauptschulabgänger.

Die Misere an den Hauptschulen hat sich in den vergangenen Jahren verstärkt. Etwa 15 bis 18 Prozent der Schüler bleiben dem Unterricht regelmäßig fern. Das stellte der Kriminologe Christian Pfeiffer fest, als er eine Untersuchung zum Thema „Gewalt an der Schule“ durchführte. „Es ist bewiesen, dass massive Schulschwänzer viermal so viele Gewaltstraftaten begehen wie Nichtschwänzer“, sagt der Experte. Pfeiffer schlägt vor, Schulsozialarbeiter, Lehrer und Polizei sollten gemeinsam mit den Eltern die Schüler zur regelmäßigen Teilnahme am Unterricht anhalten. Schulverweigerer hätten oft massive Probleme in der Familie, seien oft drogenabhängig, depressiv oder hätten Angst vor der Gewalt an der Schule. „Diese Kinder brauchen Hilfe in Form von Beratung oder Therapie“, sagt er.

Während 1990 etwa 8,6 Prozent der Schulabgänger keinen Abschluss hatten, sind es heute fast zehn Prozent. Jutta Allmendinger, Direktorin des Instituts für Arbeitsmarktforschung der Bundesagentur für Arbeit, mahnt deshalb: „Die wachsenden Defizite im schulischen Bereich werden im Zusammenhang mit der demografischen Entwicklung und dem technologischen Wandel zu einer Herausforderung für den Standort Deutschland.“ Bereits im Jahr 2015 werde es Engpässe im Bereich der mittleren Qualifikationen geben. Studien belegen, dass Jugendliche mit einem niedrigen oder gar keinem Schulabschluss kaum Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben. Bundesweit haben 50 Prozent der arbeitslosen Jugendlichen keine abgeschlossene berufliche Ausbildung. Besonders extrem ist die Situation bei den ausländischen Jugendlichen. Rund 20 Prozent verlassen das Schulsystem jedes Jahr ohne Abschluss. Damit ist der Anteil der Schulabgänger ohne Abschluss unter den jungen Ausländern doppelt so hoch wie unter den Deutschen. 75 Prozent der Kinder mit türkischen Eltern wechseln nach der Grundschule auf die Hauptschule. Von den Aussiedlerkindern sind es 38 Prozent, von den deutschen 35 Prozent.

Die Länder Brandenburg und Sachsen haben nach der Wiedervereinigung darauf verzichtet, die Hauptschule einzuführen. In der DDR gab es diesen Schultyp nicht. Dort wurden alle Schüler bis zum Ende der achten Klasse gemeinsam unterrichtet. Erst danach trennten sie sich auf und machten entweder den Oberschulabschluss oder den erweiterten Oberschulabschluss. Heute gibt es in den meisten ostdeutschen Ländern Mittelschulen und Gymnasien. Thüringen und Sachsen-Anhalt führten nach 1989 die Hauptschule ein und schafften sie schnell wieder ab. Der brandenburgische Bildungsminister Steffen Reiche sieht sich durch den Pisa-Schülervergleich bestätigt. Die Erfahrungen des Pisa-Siegers Finnland sprächen für ein „wenig gegliedertes Schulsystem“.

Während die Qualität vieler Hauptschulen im Westen darunter leidet, dass viele Schüler nicht richtig Deutsch können, haben die Mittelschulen in Ostdeutschland ein anderes Problem: Die Abwanderung Begabter und Engagierter. „Die Mobilsten und die Klügsten“, klagt Reiche, zögen fort, allen voran die Frauen. Insgesamt eine Million Menschen haben seit 1990 die neuen Bundesländer verlassen.

Obwohl auch in diesem Jahr wieder Tausende Jugendliche eine Lehrstelle suchen, finden Firmen deshalb sowohl im Westen als auch im Osten oft nur unzureichend qualifizierte Auszubildende. Dietrich Lehmann, Vizepräsident des vorpommerschen Unternehmerverbandes, klagt: „Viele haben nicht nur schlechte Noten in der Schule, ihre Stimmung ist auch depressiv.“

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