Frühe Förderung zahlt sich aus

12.02.2004

Viele Kindergärten erfüllen ihren Bildungsauftrag nicht · Experten sind sich jedoch einig, dass Förderung und Spracherziehung der Kleinsten die Voraussetzungen für bessere Schulleistungen sind.


Von Tina Stadlmayer

Heute machen wir in der Vorschule Vogelfutter“, freut sich Jonas in seinem blau-weißen Fußballhemd mit der Aufschrift „Marcelinho“. Die Erzieherin rührt das heiße Fett im Topf um, während zwölf Knirpse erwartungsvoll im Kreis sitzen. „Gleich dürft ihr die Sonnenblumenkerne hineinkippen“, erklärt sie. Das Stillsitzen fällt den fünf- und sechsjährigen Vorschülern der Kindertagesstätte Seestraße in Berlin-Reinickendorf schwer. Immer wieder steht ein Knirps auf, läuft zum Herd und wird freundlich an seinen Platz zurückgerufen.

Jeden Tag bereiten sich die Kinder der Vorschulgruppe eine Stunde lang auf die Schule vor: Reden, Malen, Fragen, Kochen, Turnen, Tanzen und Singen stehen auf dem Programm. Drei Kinder nichtdeutscher Eltern sind in der Vorschulgruppe. Eines spricht schon perfekt Deutsch, die anderen beiden üben noch. Wenn sie im kommenden Jahr in die Schule kommen, werden es die beiden etwas schwerer haben als ihre deutschen Klassenkameraden. Aber das Lernen wird ihnen sehr viel leichter fallen als den ausländischen Kindern, die wenige Kilometer weiter in Wedding zur Vorschule gehen. Dort, in einem graffitibeschmierten Betonkasten, werden 100 Kinder betreut, etwa 90 sprechen kaum Deutsch. Ihre Familien kommen aus der Türkei und verschiedenen arabischen Ländern. „Ich kann mich mit den meisten Kindern nicht unterhalten. Das macht es mir fast unmöglich, ihnen etwas beizubringen“, klagt eine Erzieherin. Auch mit den Müttern sei kein Austausch möglich.

Auch in die Kita Dresdener Straße in Kreuzberg gehen vor alle türkische Kinder. Dort gibt es in jeder Gruppe eine türkische Erzieherin. Beim Morgenkreis sagt jedes Kind in seiner Herkunftssprache „Guten Morgen“, sodass auch die deutschen Kinder etwas Türkisch lernen. „Dadurch fühlen sich die Kinder mit ihrer Herkunftskultur angenommen und sind offener für das Deutsche“, sagt Kita-Leiterin Gerda Wunschel.

Die Förderung der Kinder vor dem Einschulungsalter war in Deutschland jahrelang kein Thema. Spätestens seit dem schlechten Abschneiden der deutschen Schüler beim internationalen Schülervergleich Pisa vor zwei Jahren ist klar, dass das ein Fehler war. Die Pisa-Ergebnisse hängen klar mit der mangelhaften Sprachförderung in den Kindergärten zusammen. Denn Kinder aus ausländischen oder bildungsfernen Familien schnitten in Deutschland sehr viel schlechter ab als in anderen Ländern. Bildungsexperten fordern deshalb: Deutschland muss die Förderung der Kleinsten verbessern und mehr in Kindergärten und Vorschulen investieren.

Internationale Studien zeigen, dass die Vorschulerziehung zu besseren Schulleistungen führt. Besonders Kinder aus benachteiligten Familien, die zu Hause nicht unterstützt werden, profitieren davon. Auch die Kriminalitätsraten von Jugendlichen und der spätere Bezug von staatlicher Unterstützung werden reduziert. Eine amerikanische Kosten-Nutzen-Analyse weist eine Rendite von rund 7 $ für jeden in die Vorschule investierten Dollar aus. Eine Schweizer Studie ergab, dass jeder Franken, der in Kindergärten investiert wird, 3 bis 4 Franken Rendite bringt. Sie liegt so hoch, weil dann beide Eltern arbeiten können und die Frauen den sonst oft üblichen Karriereknick vermeiden können. Höhere Familieneinkünfte führen zu höheren Steuerzahlungen und füllen die Sozialkassen. Bildungsexperten gehen von ähnlichen Relationen in Deutschland aus.

Die Stadt Berlin führte im Sommer letzten Jahres einen Sprachtest mit allen Kindern durch, die kurz vor der Einschulung standen. Das erschreckende Ergebnis des „Bärenstark“-Tests: 80 Prozent der nichtdeutschen und 28 Prozent der deutschen Kinder hatten sprachliche Defizite. Damit ist klar: Vor der Einschulung müssen die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass alle Kinder dem Schulunterricht folgen können.

Der Berliner Schulsenator Klaus Böger versprach, er werde die Sprachförderung in den Kitas verstärken. Doch er kann keinen einzigen zusätzlichen Euro dafür bereitstellen. Auch in fast allen anderen Bundesländern werden die Kinder vor dem Schuleintritt auf mögliche Sprachdefizite getestet. Doch die gezielte Sprachförderung hat immer noch Seltenheitswert. Im Rahmen eines hessischen Modellversuchs finanziert die Hertie-Stiftung zum Beispiel mit einer halben Million Euro Tests und Sprachförderung in einigen Kindergärten.

Einzelne deutsche Kitas mit besonders hohem Ausländeranteil bekamen von der Firma Microsoft „Schlaumäuse“-CDs mit Übungen zur Sprachförderung. In anderen Kitas ist der „Sprachförderkoffer“ des Berliner Instituts für kreative Sprachförderung im Einsatz.

Es gibt Einzelinitiativen, aber noch keine bundesweite Lösung für das Problem. Familienministerin Renate Schmidt hat vor einigen Jahren eine „Nationale Qualitätsinitiative“ für Kindergärten gestartet, an der sich zehn der 16 Bundesländer beteiligen. Das macht auch deshalb Sinn, weil die Lernfähigkeit von Kindern zwischen dem dritten und sechsten Lebensjahr besonders ausgeprägt ist. Auch Sprachen lernen Kinder in diesem Alter spielend. Im Sommer will Schmidt die Rahmenbedingungen für die Förderung der Kleinsten bundesweit per Gesetz festlegen.

Wassilios Fthenakis, Direktor des Münchner Instituts für Frühpädagogik und einer der Berater Schmidts, kritisiert, dass die deutschen Kindergärten im internationalen Vergleich unterfinanziert seien: „Der hohe Stellenwert der frühkindlichen Förderung und der hohe volkswirtschaftliche Nutzen erfordern es, innerhalb der öffentlichen Haushalte umzuverteilen.“ Auch Familienministerin Renate Schmidt gibt zu: „Es ist eine falsche Praxis, dass wir in Deutschland am meisten Geld für die Gymnasien ausgeben und am wenigsten für den vorschulischen Bereich und die Grundschulen.“

Im Vergleich mit anderen Ländern verbringen die deutschen Kinder sehr viel weniger Zeit im Kindergarten. Nur 29 Prozent der Einrichtungen haben von morgens bis abends geöffnet. Ganztagskindergärten sind jedoch besser in der Lage, soziale Defizite auszugleichen. Außerdem ermöglichen sie den Müttern die Berufstätigkeit.

Kindergärten haben laut Kinder- und Jugendhilfegesetz den Auftrag, für „die Betreuung, Bildung und Erziehung des Kindes“ zu sorgen. Doch wegen der leeren Kassen bei kommunalen, kirchlichen und privaten Trägern sind die Gruppen zu groß, die Erzieherinnen überlastet. Deshalb kommen die meisten Einrichtungen ihrem Bildungsauftrag nur sehr eingeschränkt nach.

Im Gegensatz zu den Vorschülern in vielen europäischen und in den angelsächsischen Ländern lernen die Sechsjährigen in Deutschland noch nicht lesen und schreiben. Eltern, die ihren Kindern dennoch das Lesen beibringen wollen, werden von den Erzieherinnen gebremst. Mütter aus Frankreich oder den Vereinigten Staaten, deren Sprösslinge einen deutschen Kindergarten besuchen, verstehen nicht, warum die deutschen Eltern ihre Kinder nicht dazu ermutigen, lesen zu lernen.

Auch bei der Ausbildung der Vorschul-Erzieherinnen könnte sich Deutschland ein Beispiel an anderen Ländern nehmen. Während sie fast überall ein pädagogisches Studium absolvieren müssen, reichen bei uns die mittlere Reife und der Besuch einer Erzieherinnenschule aus.

Arbeitslose und ausländische Eltern schicken ihre Kinder seltener in den Kindergarten als andere. Sie zahlen zwar meist nur geringe Beiträge, aber auch die sparen viele Familien lieber ein. Nicht selten sitzen die Kleinen dann viele Stunden zu Hause vor dem Fernseher. Für die benachteiligten Kinder wäre es aber besonders wichtig, an der Kindergartenförderung teilzunehmen. Deshalb fordern Politiker wie FDP-Generalsekretärin Cornelia Pieper zu Recht ein kostenloses, aber obligatorisches Vorschuljahr für alle Kinder.

Dieter Lenzen, Präsident der Freien Universität Berlin, schlug vor kurzem vor, dass schon Vierjährige in die Schule gehen dürfen sollen. Die Frühförderung der Zukunft stellt er sich so vor: „Fitte Vierjährige aus dem Kindergarten üben in einer Lerngruppe mit Grundschülern lesen und schreiben. Entscheidend ist nicht mehr das Alter, sondern die individuelle Fähigkeit.“

Der Berliner Bildungssenator Klaus Böger hat diese Idee teilweise aufgenommen. Im kommenden Schuljahr sollen bereits die Fünfeinhalbjährigen zur Schule gehen. Ohne ausreichende Sprachförderung im Kindergarten ist das Experiment aber zum Scheitern verurteilt. Was Kinder dann in der Grundschule erwartet, beschreibt Teil drei der Bildungsserie morgen.

12.02.2004 / Tina Stadlmayer

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