Wischiwaschi-Deutsch reicht nicht

11.02.2004

Dass für den Schulerfolg nur Leistung zählt, ist ein Irrglaube: Clevere, aber sozial Schwache haben in der Grundschule kaum eine Chance – weil sie nicht richtig Deutsch können


Von Tina Stadlmayer

Für die Kinder der Spreewald-Grundschule in Berlin-Schöneberg ist hoher Besuch nichts Besonderes: Ob Bundesfamilienministerin oder die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung – alle waren sie schon da, um sich das Erfolgsmodell anzuschauen. Sie ließen sich den zweisprachigen Unterricht, die deutsch-türkische Theatergruppe, das Schülercafé und den von Eltern organisierten Hort vorführen.

Schulleiter Erhard Laube ist Erstaunliches gelungen: Früher kutschierten bildungsbewusste Eltern ihre Sprösslinge lieber in den Nachbarbezirk, weil sie wussten, dass in der Spreewald-Grundschule kaum noch deutsche Schüler waren. Seit einigen Jahren aber steigt der Anteil der Kinder mit deutschen Eltern wieder an. „In den zweisprachigen Klassen unterrichten eine deutsche und eine türkische Lehrerin, denn Kinder lernen eine Zweitsprache nur so gut, wie sie ihre Muttersprache beherrschen“, sagt Laube.

Die Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung (Iglu) brachte für die deutschen Viertklässler ein gutes und ein schlechtes Ergebnis. Das Gute: Im Lesetest der 35 Teilnehmerstaaten belegte Deutschland den elften Platz und liegt damit im vorderen Drittel. Am besten schnitten die Baden-Württemberger und Bayern ab. Das schlechte Ergebnis: Die Kompetenz der Viertklässler hängt stark von ihrer sozialen Herkunft ab. Kinder mit nichtdeutschen Eltern fielen beim Test weit hinter ihre deutschen Altersgenossen zurück. Etwa zehn Prozent der Viertklässer konnten kaum lesen. Über ein Drittel hatten Schwierigkeiten, die Texte zu verstehen.

„Integration durch Sprache ist für den Bildungserfolg entscheidend“, sagt Roland Kaehlbrandt, Geschäftsführer der gemeinnützigen Hertie-Stiftung. In drei Grundschulen im Ausländerbrennpunkt Gallus-Viertel in Frankfurt/Main hat die Stiftung deshalb 2001 in Zusammenarbeit mit dem hessischen Kultusministerium das Projekt „Deutsch & PC“ aufgelegt. „Früher sind von den 180 Schülern an den drei Schulen jedes Jahr 30 bis 40 sitzen geblieben“, erzählt Kaehlbrandt, „nach einem Jahr mit der besonderen Sprachförderung kein einziger mehr“.

Das Projekt hat die Landesregierung so überzeugt, dass sie es für die Schuljahre zwei bis vier weiterfinanziert. Die beteiligten Lehrer erwarten, dass es in Zukunft deutlich mehr Schüler aus diesem schwierigen sozialen Umfeld ins Gymnasium schaffen werden. „Das Wischiwaschi-Pidgin-Deutsch der Ausländerkinder ist einer der Hauptgründe dafür, dass es auch intelligente Kinder nicht ins Gymnasium schaffen“, so Kaehlbrandt. Um hier einzugreifen, ist die Grundschule die letzte Möglichkeit: „Das größte linguistische Fenster ist mit vier bis sieben Jahren. Wird es nicht genutzt, können sie hinterher kaum noch reparieren“, sagt der Geschäftsführer der Hertie-Stiftung.

So kommt es dann zu der unnötigen Vergeudung von Humankapital, die die Iglu-Studie dokumentiert. Fast die Hälfte der Grundschüler bekommen eine falsche Übergangsempfehlung. Bei der Weichenstellung, ob die Schüler aufs Gymnasium, auf die Real- oder auf die Hauptschule wechseln, sollte eigentlich die Leistung zählen. Tatsächlich ist die soziale Herkunft ausschlaggebend.

Damit erweist sich ein Grundpfeiler des dreigliedrigen Schulsystems als morsch. „Der Sohn eines Chefarztes hat auch bei mittlerer Leistung eine viel höhere Chance, aufs Gymnasium zu kommen; die Tochter einer türkischen Putzfrau hat es auch bei sehr guten Leistungen schwer“, erläuterte, der deutsche Leiter der Studie, Wilfried Bos. So setzt sich die mangelnde Frühförderung von ausländischen und sozial benachteiligten Kindern in der Grundschule fort. Hier rächt es sich, dass der Staat relativ wenig Geld in die frühkindliche Erziehung und in Grundschulen investiert. Die Ausgaben dafür liegen mit 3818 $ noch unter dem OECD-Durchschnitt von 4148 $ pro Kopf. Dänemark, die Schweiz und die USA geben für einen Grundschüler doppelt so viel Geld aus wie Deutschland. Für Nachmittagsbetreuung und Förderkurse ist kein Geld da – mit der Folge, dass der Anteil derer, die auf einer Hauptschule landen, unter den ausländischen Kindern sehr viel höher ist als unter den deutschen. Während 70 Prozent der Sprösslinge von Vätern mit Abitur eine Empfehlung für das Gymnasium erhalten, sind es bei Kindern von Vätern ohne Hauptschulabschluss 16 Prozent.

Zu groß sind auch viele Klassen: In Deutschland unterrichtet ein Grundschullehrer rund 20 Schüler, in den USA sind es 16, in Schweden 13, in Dänemark sogar nur zehn. Ein Lehrer von 20 Schülern ist zumindest bei vielen Kindern aus sozial schwachen Familien überfordert. Ein weiteres Manko sind das im internationalen Vergleich hohe Einschulungsalter und die mangelnde Vorschulerziehung. Während die einen schon lesen und schreiben können, beherrschen die anderen nicht einmal die deutsche Sprache. Das führt dazu, dass sich ein Teil der Schüler langweilt, während die anderen bald nicht mehr mitkommen.

Im Gegensatz zu den beim Pisa-Test erfolgreichen Ländern findet der Unterricht außerdem nur am Vormittag statt. So hängt die Schulleistung der Kinder stark vom Wissen und der verfügbaren Zeit ihrer Mütter ab. Sie sind die Nachhilfelehrerinnen der Nation. Oder sie engagieren Nachhilfelehrer: Jeder vierte Euro für die Schulausbildung wird in Deutschland bereits privat finanziert, sagt der Unternehmensberater Jürgen Kluge. Das ist deutlich mehr als im OECD-Durchschnitt: Für zwölf Prozent der Ausgaben für die Schulen kommen die Bürger demnach direkt auf, ohne den Umweg über Steuern und Abgaben. Bei Pisa-Spitzenreitern wie Schweden sind es sogar nur drei Prozent. Dies ist ein wirklich deprimierender Befund: Weil das deutsche Schulsystem nicht funktioniert, müssen Eltern immer mehr für Reparaturarbeiten aus eigener Tasche bezahlen. Da in der Grundschule das Lernverhalten und die Einstellung zur Leistung geprägt werden, gibt es immer mehr Eltern, die sogar umziehen, um ihr Kind auf eine „bessere“ Grundschule zu bringen. Auch der Boom der Privatschulen hat damit zu tun. Noch hat kein Forscher die Kosten für diese Ausweichreaktionen auf die deutsche Bildungsmisere analysiert. Täte er es, kämen sicher Milliarden Euro zusammen: Geld, das nutzbringender in bessere Grundschulen investiert werden könnte.

Bleibt es bei der jetzigen Situation, ist das gesellschaftliche Scheitern sozial benachteiligter und ausländischstämmiger Schüler programmiert. Eine Verschwendung von Humankapital: In den Pisa-Siegerländern Finnland und Schweden werden schwierige Schüler sehr viel besser integriert. Esref Ünsal vom Verband Türkischer Unternehmer mahnt sogar, nichtintegrierte ausländische Jugendliche könnten für die deutsche Gesellschaft zu „einer tickenden Bombe“ werden.

Der Bildungsforscher Dieter Lenzen fordert in einer Studie für die Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft ein völlig neues Schulsystem: „Stärkere und schwächere Kinder lernen in einer Gruppe, die Kinder werden nicht mehr frühzeitig auf einen einzigen Bildungsweg festgelegt. Der Lehrer bereitet für jedes Kind ein individuelles Pensum vor. Er ist ganztags in der Schule und Ansprechpartner auch für die Eltern. Es gibt keine Zeugnisse mehr, sondern Leistungspunkte und inhaltliche Bewertungen. Auch Sitzenbleiben wird es nicht mehr geben.“

Finanziert werden soll das Ganze durch eine Erhöhung der staatlichen Bildungsausgaben von 4,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts auf sechs Prozent. Schaffen wir die Wende nicht, versagen wir jedem dritten Kind in Deutschland seine Zukunft – all jenen, die auf den Restschulen der Nation landen.

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